01 - Gott schütze dieses Haus
ich fühle mich hier immer am wohlsten. Meine Freunde behaupten, das komme daher, daß ich auf einem Bauernhof aufgewachsen bin. Dort ist die Küche immer der Mittelpunkt des alltäglichen Lebens, nicht wahr? Da bin ich wahrscheinlich nie herausgewachsen. Kommen Sie, setzten Sie sich. Kaffee und ein Stück Kuchen? Sie sehen richtig ausgehungert aus. Sie sind wohl Junggeselle? Junggesellen neigen immer dazu, das Essen zu vernachlässigen, nicht wahr?«
Wieder kam die Erinnerung an seine Großmutter, an das Gefühl des Geborgenseins, der bedingungslosen Liebe. Während er zusah, wie sie geschäftig das Tablett herrichtete, ihre Hände ruhig und sicher, wurde sich Lynley vollkommen gewiß, daß Marsha Fitzalan die Antwort wußte.
»Würden Sie mir von Gillian Teys erzählen?« fragte er.
Ihre Hände hielten inne. Mit einem Lächeln drehte sie sich nach ihm um.
»Von Gilly? Aber mit Vergnügen. Gillian Teys war das hinreißendste junge Mädchen, das ich je gekannt habe.«
11
Sie kam an den Tisch und stellte das Tablett in die Mitte. Es war eine förmliche Geste, die eigentlich unnötig war. Die Küche war so klein, daß man mit ein paar Schritten von der Anrichte zum Tisch gelangte, aber sie hielt an der äußeren Form fest und benutzte, wenn Besuch kam, ihr Tablett.
Auf ihm lag ein altes Spitzendeckchen, auf dem sich das feine Porzellan sehr hübsch ausnahm. Die beiden Teller waren angeschlagen, aber Tassen und Untertassen hatten die Jahre unversehrt überstanden.
Herbstliche Zweige in einem Tonkrug schmückten den einfachen Holztisch, auf dem Marsha Fitzalan jetzt sorgfältig zum Kaffee deckte. Sie schenkte beide Tassen ein, nahm sich Zucker und Sahne und begann dann zu erzählen.
»Gilly war wie ihre Mutter. Ich hatte Tessa auch bei mir im Unterricht. Daran sehen Sie, wie alt ich bin. Aber so ist es nun mal. Fast jeder im Dorf war in meinem Klassenzimmer, Inspector.« Sie zwinkerte lächelnd, als sie hinzufügte: »Außer Pater Hart. Er und ich gehören derselben Generation an.«
»Das hätte ich nie erraten«, sagte Lynley ernsthaft.
Sie lachte. »Wie kommt es nur, daß wirklich charmante Männer immer merken, wenn eine Frau auf ein Kompliment aus ist?«
Sie machte sich mit Appetit über ihren Kuchen her, kaute einige Augenblicke genüßlich und fuhr dann fort.
»Gillian war das Ebenbild ihrer Mutter. Sie hatte das gleiche schöne blonde Haar, diese prachtvollen Augen und das gleiche weiche Gemüt. Aber Tessa war eine Träumerin, während Gillian um einiges realistischer war, würde ich sagen. Tessa saß immer in irgendeinem Wolkenkuckucksheim. Ein schwärmerisches Mädchen. Ich denke, daß sie deshalb vielleicht so jung geheiratet hat. Sie glaubte fest daran, daß eines Tages der große, dunkle Held erscheinen und in heißer Liebe zu ihr entbrennen würde. William Teys paßte in dieses Bild.«
»Und Gillian wartete nicht auf den Märchenprinzen?«
»O nein. Männer waren für sie völlig uninteressante Wesen. Sie wollte Lehrerin werden. Ich weiß noch, wie sie nachmittags immer hierherkam und sich dann mit einem Buch irgendwo in die Ecke hockte. Sie liebte die Brontes. Dieses Kind hat Jane Eyre bis zu seinem vierzehnten Geburtstag bestimmt sechs- oder siebenmal gelesen. Sie, Jane und Mister Rochester waren die innigsten Freunde. Und sie sprach mit Wonne über alles, was sie gelesen hatte. Aber es war nicht einfaches Geplapper, wissen Sie. Sie unterhielt sich mit mir über die Figuren, die Beweggründe, die tiefere Bedeutung. Sie sagte oft: ›Das muß ich alles wissen, wenn ich mal Lehrerin bin, Miß Fitzalan.‹«
»Warum ist sie von zu Hause weggelaufen?«
Die alte Frau blickte sinnend auf die braunbelaubten Zweige im Krug.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie nachdenklich. »Sie war ein so gutes Kind. Es gab nie ein Problem, das sie mit ihrer raschen Intelligenz nicht lösen konnte. Ich weiß wirklich nicht, was da plötzlich geschah.«
»Wäre es möglich, daß sie in einen Mann verliebt war? Daß sie wegging, um ihm zu folgen?«
Marsha Fitzalan tat den Gedanken mit einem Kopfschütteln ab.
»Ich glaube nicht, daß Gillian sich damals schon für Männer interessierte. Sie war noch nicht so weit wie die anderen Mädchen.«
»Wie war Roberta? Hatte sie Ähnlichkeit mit ihrer Schwester?«
»Nein, Roberta war wie ihr Vater.« Sie brach plötzlich ab und runzelte die Stirn. »War. Ich möchte nicht in der Vergangenheit von ihr sprechen. Aber sie scheint fast schon gestorben zu sein.«
»Ja,
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