01 - Gott schütze dieses Haus
den Eindruck hat man, nicht wahr?«
Sie sah ihn beinahe dankbar an, als wäre sie froh, daß er ihr zustimmte.
»Roberta war wie ihr Vater, sehr erdverbunden und sehr schweigsam. Die Leute werden Ihnen erzählen, daß sie überhaupt keine eigene Persönlichkeit besaß, aber das stimmt nicht. Sie war einfach äußerst schüchtern. Sie hatte die schwärmerische Veranlagung ihrer Mutter und die Schweigsamkeit ihres Vaters geerbt. Sie ging völlig in ihren Büchern auf.«
»Wie Gillian?«
»Ja und nein. Sie las so leidenschaftlich wie Gillian, aber sie sprach nie über das, was sie gelesen hatte. Gillian las, um zu lernen. Roberta, glaube ich, las, um zu fliehen.«
»Wovor wollte sie fliehen?«
Marsha Fitzalan zog das Spitzendeckchen auf dem Tablett gerade. Ihre Hände waren vom Alter gefleckt.
»Vor dem Wissen, daß sie verlassen worden war, vermute ich.«
»Von Gillian oder ihrer Mutter?«
»Von Gillian. Roberta hing abgöttisch an Gillian. Ihre Mutter hat sie nie gekannt. Man muß sich nur vorstellen, wie es gewesen sein muß, ein Mädchen wie Gilly zur älteren Schwester zu haben: so schön, so lebendig, so intelligent. Gilly hatte alles, was Roberta nicht hatte und sich wünschte.«
»War sie da nicht eifersüchtig?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, sie war nicht eifersüchtig auf Gilly. Sie liebte sie. Ich würde denken, daß es Roberta tief verletzt hat, als ihre Schwester fortging. Aber im Gegensatz zu Gilly, die über ihren Schmerz gesprochen hätte - wirklich, sie sprach über alles und jedes -, verinnerlichte Roberta diesen Schmerz. Ich weiß noch genau, wie die Haut des armen Kindes aussah, nachdem Gilly fort war. Komisch eigentlich, daß ich mich daran erinnere.«
Lynley dachte an das Mädchen, das er in der Heilanstalt gesehen hatte, und fand es nicht verwunderlich, daß die Lehrerin sich an Robertas Haut erinnerte.
»Akne?« fragte er. »Dafür wäre sie allerdings noch ein bißchen jung gewesen.«
»Nein. Sie bekam einen ganz fürchterlichen Ausschlag. Ich bin überzeugt, daß er seelische Ursachen hatte, aber als ich sie darauf ansprach, behauptete sie, es wäre eine Allergie gegen Schnauz.«
Marsha Fitzalan senkte die Augen und zeichnete mit ihrer Gabel feine Muster in die Krümel auf ihrem Teller. Lynley wartete geduldig. Er war überzeugt, daß das noch nicht alles war.
»Ich fühlte mich so hilflos, Inspector«, fuhr sie schließlich fort. »Ich hatte das Gefühl, als Freundin und als Lehrerin versagt zu haben, da sie mit mir nicht darüber sprechen konnte, was mit Gilly geschehen war. Aber sie wollte einfach nicht reden. Deshalb behauptete sie, es wäre eine Allergie gegen die Hundehaare.«
»Haben Sie mit ihrem Vater darüber gesprochen?«
»Zunächst nicht. William war so durcheinander über Gillians Verschwinden, daß er kaum ansprechbar war. Wochenlang redete er überhaupt nur mit Pater Hart. Aber ich fand schließlich, daß ich es Roberta schuldete, mit ihm zu sprechen. Das Kind war ja gerade erst acht Jahre alt. Da bin ich auf den Hof gegangen und sagte ihm, daß ich mir Sorgen um sie machte, auch wegen des traurigen Märchens über die Hundeallergie.«
Sie schenkte sich frischen Kaffee ein und trank in kleinen Schlucken, während sie in Gedanken bei jenem lang vergangenen Besuch weilte.
»Der arme Mann. Ich hätte wegen seiner Reaktion wirklich nicht besorgt zu sein brauchen. Ich glaube, er fühlte sich schrecklich schuldig wegen Roberta. Er fuhr gleich am nächsten Tag nach Richmond und besorgte drei oder vier Mittel für den Ausschlag. Es kann gut sein, daß das arme Ding nichts anderes brauchte als die Aufmerksamkeit des Vaters. Danach ging der Ausschlag nämlich sehr bald weg.«
Aber alles andere blieb unverändert, dachte Lynley. Im Geist sah er das einsame kleine Mädchen in dem düsteren Haus, umgeben von den Geistern und den Stimmen der Vergangenheit, gefangen in einem Leben in Schweigen, wo nur die Bücher Trost und Nahrung brachten.
Lynley sperrte die Hintertür auf und trat ins Haus. Es war so kalt und muffig wie bei ihrem ersten Besuch. Er ging durch die Küche ins Wohnzimmer, wo Tessa Teys vom Gedenkschrein in der Ecke zu ihm herablächelte. Ihr Gesicht war jung und sehr empfindsam. Er stellte sich vor, wie Russell Mowrey den Kopf von seinen Grabungsarbeiten hob und dieses schöne Gesicht erblickte. Es war leicht zu verstehen, daß er sich in diese Frau verliebt hatte. Es war leicht zu verstehen, daß er sie immer noch liebte.
Nicht tausend Schiffe,
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