01 Jesses Maria: Kulturschock
neben ihren Romanen auch Gedichte...“ Großer Gott, Gedichte.
„…und wird heute einige Passagen aus ihrem Buch ‚Kröten im Haus der Ratten‘ und anschließend Verse aus ihrem Gedichtband, ‚…wenn Stuten beißen’ vortragen.“ Gedichte über bissige Pferde? Das hab ich ja noch nie gehört! „Meine Damen, mein Herr: Camelia Bitterbös!“
Wie sieht die denn aus?
Die ist ja fast zwei Meter groß. Sie hat Schlappen an! Und dieser Kaftan, liebe Zeit, so was gibt es doch seit den Siebzigern nirgends mehr. Lila Batik, rosa Stirnband und Birkenstocks. Und dann diese Riesenbrille mit den roten Gläsern – sieht aus wie ne Schweißerbrille. Weiße Stoppelhaare mit einer rosa Strähne. Die hat sie doch nicht alle. So geht man nicht zu einem Auftritt. Das ist eine Frechheit. Auch wenn nur zehn Leute da sind. Das konnte sie vorher schließlich nicht wissen. Ich hab mir ja auch was Gutes angezogen.
„Tamara, siehst du den schwarzen Nagellack? Sind die Nägel echt oder aufgeklebt? Igitt, wie Hexenkrallen. Ja, ich sag ja schon nichts mehr.“ Fußpilz hat sie auch.
„Siehst du die Fußnägel, Tamara? Wenn ich solchen Fußpilz hätte, ginge ich erstens zum Arzt und zweitens niemals ohne Strümpfe.“
Sie hat ne Stimme wie n Kerl. Vielleicht ist sie gar keine Frau. Oberweite hat sie jedenfalls nicht und wenn, dann irgendwo in den Falten dieses Gewandes. Gibt esja, dass Männer wie Frauen rumlaufen, damit sie besser Karriere machen. Lilo Wanders zum Beispiel ist in Wirklichkeit ein Mann. Das weiß nicht jeder. Aha, Frau Bitterbös liest die Gedichte über die Pferde.
„Du warst mir Freundin in einst schweren Stunden.
Du hast mit mir so manches Mal gelacht.
Du wurdest Feindin. Hast es nicht verwunden
Dass man mich mag. Du hast Dich klein gemacht.“
Was hat denn das mit Stuten zu tun?
War das Pferd sauer, als Camelia Bitterbös berühmt wurde? Ist die überhaupt berühmt? Wenn die berühmt wäre, hätte sie Geld und wenn sie Geld hätte, liefe sie nicht so rum. Naja. Wenigstens reimt es sich.
„Ich bin dir Feindin, schlage dich zu Boden.
Will wissen, dass du meinetwegen weinst.
Ich habe dich und mich nicht angelogen.
Erträgst du, dass ich mehr bin, als du scheinst?“
Also mit Pferden hat das gar nichts zu tun. Klingt eher so, als hätt sie ne Freundin fertiggemacht. Ob man darüber Gedichte schreiben muss? Fiese Type, diese Bitterbös. Oma hatte doch Recht, was die Namen angeht. Sie sagte immer: „Sage mir deinen Namen und ich sage dir wer du bist.“
Wie alt mag sie sein? Über sechzig sicher. Man muss die Querfalten am Hals zählen, wie die Jahresringe an einem Baum.
„Mich liebt das Volk. Es liebt mich, wie ich bin.
Du musstest brüllen, weil dich niemand hörte.
Doch leider schaute niemand bei dir hin.
Das Ende kam, weil Neid dein Herz zerstörte.“
Meine Güte, wie schwülstig. Aber jetzt verstehe ich schon, wie sie das meint. Wenn Stuten beißen – so gesehen ist der Titel gar nicht so doof.
Mit Camelia Bitterbös wollte ich auch keinen Streit haben. Wenn die stutenbissig wird…
Jetzt bin ich sicher, dass Bitterbös ihr Künstlername ist. Sonst könnte sie nicht so fiese Gedichte schreiben, denn das muss ja zum Image passen und zum Namen, was einer schreibt.
„Du siehst die Brust nicht, die mein Herz verbirgt?“
Nee, ich sehe keine Brust. Nicht in dem Fummel. Wozu auch. Jeder hat ein Herz und eine Brust, egal, ob man eins davon sieht oder nicht. So ein Quatsch.
„Du willst mich nackend, vor dir kniend haben?“
Neeeiinn.
„Du spürst nicht, wie sich stark mein Leib verzehrt?“
Warum schreit sie denn jetzt so?
„Sieh her! Du sollst dich dran erlaben!“
Die reißt sich das Kleid vom Leib!
„Tamara, Tamara, lass uns sofort gehen.“ Ein schwarzes Lack-Korsett. Und Birkenstocks. Barfuss. „Tamara, bitte – ich will hier raus. Es ist mir egal, ob das eine Performance ist. Wenn die ihr Korsett auch noch auszieht, falle ich in Ohnmacht. Tamara – ich gehe!“
Vernissage
Tamara hätte mir sagen müssen, dass schwarze Kleidung Pflicht ist. Ich bin die einzige in bunt, alle anderen haben schwarz an. Eigentlich ist schwarz feige. Man geht kein Risiko ein, dass was nicht zusammen passt. Fast könnte man denken, hier sei eine Beerdigung und keine Vernissage. Sind die Leute gar nicht wegen der Bilder hier? Alle gucken sich nur gegenseitig an, niemand beachtet die Bilder. Auf meiner Einladung steht, dass Professor Knake nach dem Champagnerempfang eine Einführung in das
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