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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Berling
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Junge mit dem Hund von Monika…“ Ach, ist das alles lange her.
    In der Tropfsteinhöhle erklärte Herr Höhner uns die Stalagmiten und die Stalaktiten. Stalaktiten sind oben. Ich kann mir das bis heute merken, weil Rüdiger so eine Bemerkung machte. „Tieten sind oben.“ Ich sag ja, der hatte wirklich Ideen.
    In der Höhle haben wir nebeneinander gestanden. Und irgendwie sind wir ganz zufällig hinter der Gruppe zurückgeblieben. Wir waren die letzten. Und dann hat Rüdiger meine Hand genommen. Er hat mich geküsst. Richtig. Mit Zungenschlag. Dann hat er diesen Satz gesagt. Er hat gesagt: „Maria.“ Dann hat er eine Pause gemacht. Er war total verlegen. Und dann hat er gesagt: „Willst du mit mir gehen?“ Kann man sich ja vorstellen, was damals in mir passierte. Wo ich ihndoch schon so lange so süß fand. Natürlich habe ich „Ja“ gesagt. Das ging noch eine ganze Weile weiter mit Rüdiger und mir. Auch nach der Klassenfahrt. Bis zu diesem Abend auf dem Spielplatz. Er saß in der Schaukel und ich auf seinem Schoß. Wir haben geknutscht. Ich hab die Zeit vergessen und kam zu spät nach Hause. Meine Mutter war gnadenlos. Als mein Hausarrest nach drei Wochen zu Ende war, war Schluss mit Rüdiger. Er ging mit Angela, einer hochnäsigen Tussi aus der Parallelklasse. Tagelang habe ich geheult und auf meinem tragbaren Plattenspieler „Lobo“ gehört. „Baby, I‘d love you to want me“.
    Ich bin vor Liebeskummer fast gestorben. Zwei Wochen lang konnte ich die „Partridge Familie“ mit David Cassidy nicht ohne Heulkrämpfe ansehen. Den Starschnitt aus der „Bravo“ riss ich von der Wand und ersetzte ihn durch Poster von den Les Humphries Singers und Terence Hill.
    Ich hab mich oft mit meiner Mutter wegen dieser Poster gestritten. Sie schwärmte für Rudolf Schock und Bruce Low. Die Geschmäcker sind verschieden.
    Ich weiß gar nicht mehr, wo Rüdiger abgeblieben ist. Beim letzen Klassentreffen war er nicht dabei. Schade. Da war ich immerhin noch zwanzig Jahre jünger als heute. Ich war schon längst mit Manni verheiratet. Ich hätte Rüdiger zeigen können, was er damals nicht haben wollte und später nicht mehr kriegen konnte. Ob er sich geärgert hätte? Oder wäre ich vielleicht ganz froh gewesen? Womöglich hat Rüdiger heute einen dicken Bauch und Halbglatze? Vielleicht hat er aberimmer noch so schöne lange Locken? Vielleicht sehe ich ihn heute. Die Zeiten haben sich geändert. Ich bin nicht mehr fünfundzwanzig, aber ich bin auch nicht mehr verheiratet. Ich ziehe den Rock an.

Simon und Nils
    Wen sie wohl diesmal eingeladen hat. Tamara hat einen eigenartigen Geschmack, was ihre Gäste angeht. Sie sagt immer: „Tante Maria, bunt müssen sie sein.“ Bunt. Letztes Mal war der schrille Dichter mit dem geflochtenen Ziegenbart und den komischen Gedichten da. Er erzählte stundenlang von seiner Lesung im Brackweder Gefängnis und von den menschenunwürdigen Umständen dort. Und? Wie sollte ich das verstehen? Sollen Mörder und Kinderschänder etwa Teppichboden und Designermöbel in ihrer Zelle haben? Das ist doch heute keine Strafe mehr, im Gefängnis zu sein. Das ist Existenzsicherung. Ein Dach überm Kopf und drei Mahlzeiten haben die Knastbrüder jedenfalls alle. Und einen Fernseher, eine Bibliothek im Haus und Psychologen, die um sich ihr Seelenheil kümmern. Mancher, der draußen lebt, hat das alles nicht.
    Heute ist Fischtag, hat Tamara gesagt.
    Jede Einladung muss unter einem Motto stehen, das ist ihr Tick. Hoffentlich freut sie sich über die Flasche Wein. „Fisch muss schwimmen“, hat meine Mutter immer gesagt.
    Tamara ist richtig lieb. Sie lädt mich oft ein, wenn sie Gäste hat. „Tante Maria, du musst auch mal was anderes sehen, als immer nur deine Formulare im Krankenhaus“, sagt sie oft.
    Dabei macht mir das gar nichts aus. Ich arbeite gern. Es ist wichtig, dass die Krankmeldungen und Urlaubs-scheine abgeheftet werden. Bei uns arbeiten sechshundert Leute, wo kämen wir hin, wenn keiner ordentlich verwalten würde wenn einer fehlt.
    Es gibt Suppe. Erbsensuppe mit geräucherter Makrele und Minzeblättern. Das sieht komisch aus, schmeckt auch komisch, aber die anderen gucken hingerissen. „Köstlich und originell, meine Liebe“, hat der junge Mann im knallblauen Seidensakko eben gesagt. Mir ist die Suppe zu fischig. Da gehören Mett-Enden rein und Speck und keine Fische.
    Zehn Leute hat sie eingeladen. Ob sie ihre Gäste immer in der Galerie kennenlernt?
    Die beiden Männer da drüben

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