01 Jesses Maria: Kulturschock
Fasson, sondern „im Ganzen kürzer“.
Jetzt stehen die hier zu dritt um mich rum und begucken sich meine Haare. Der Meister sieht die kümmerliche Strähne zwischen seinen Fingern mit einem Blick an, als würde er in eine Zitrone beißen. Wie peinlich. In dieser Umgebung liegen meine Haare irgendwie doch wieder nicht.
Kein Volumen, kein Glanz. Das liegt vielleicht am Licht. Weiße Lackwände, weißer Marmorboden, Kronleuchter und verspiegelte Tische.
Die arme Putzfrau. Man hat in diesem Licht schäbig viele Falten. Klassische Musik. Klaviergeklimper. Eigentlich find ich Klavier doof. Besonders Stücke von Mozart sind mir viel zu hibbelig. Ich weiß gar nicht, was die Leute an Mozart finden. Aber wenn es hier richtig voll ist und an allen Plätzen geföhnt wird, hört man davon sowieso nix mehr. „Nein, ich habe keine Idee, was wir machen wollen. Ich möchte mich beraten lassen.“ „Wir schneiden organisch“, sagt Gilbert. Ich lächele fragend, der Meister lächelt gequält. „Wir schneiden so, wie das Haar wächst.“
Das will ich aber gar nicht, geschnitten wie es wächst!Wegen der Wirbel im Nacken und am Scheitel.
„Asymmetrisch? Nein, das steht mir nicht. Flott? Pfiffige Eleganz? Also links kurz bis zum Ohransatz und rechts kinnlang? Hm. Ich weiß nicht. Braun mit burgunderroten Kammsträhnchen? Blaustichiges Burgunder? Sieht das nicht aus wie Rotkohl? Ja, zu meiner Garderobe passt das schon, ich trage ja immer gedeckte Farben, aber ob so was auch zu meinem Gesicht passt?“ Um Himmels willen, sind Strähnchen überhaupt im Beautycoupon mit drin? Nachher muss ich was zuzahlen, und wer weiß, was das hier kostet. Dass sie um mich herumstehen und so tun, als gäbe es nichts Interessanteres als meine Haare, ist sicher im Preis einkalkuliert. Alles Berechnung. „Wir waschen ihr Haar mit einem amerikanischen Produkt, das es auf dem deutschen Markt nur in sehr ausgesuchten Salons gibt.“ Aha. „Danach arbeiten wir mit exakt dosierter Wärme, damit die Pflege optimal einziehen und die komplette Wirkung perfekt entfaltet.“ Aha. „Dann werden wir die Intensive-Nature-Coloration auftragen. Wir vermischen die Nuancen Cappuccino, Goldnougat und Burgund in verschiedenen Variationen. Wir beginnen mit der helleren Farbe in den Längen, damit das Deckhaar nicht noch weiter strapaziert wird.“ Angelina erklärt mir jeden Schritt und was sie sagt, klingt therapeutisch. Ihre Assistentin steht daneben und hört aufmerksam zu und nickt. Fräulein Aishe wird später zu mir kommen, sie frisiert drüben noch Frau Bergmann-Köhler. Die Dame ist mir wohlbekannt.
Die Leserinnen der Zeitschrift „Frau im Leben“ habensie kürzlich zur Frau des Jahres gewählt. Weil sie sechs Kinder hat und trotzdem als Politikerin arbeitet. Kunststück!
Frau Irene Bergmann-Köhler ist mit dem Herzchirurgen Professor Dr. Alf Bergmann verheiratet. Der stinkt vor Geld. Und Madame hat mit Sicherheit ein Au-pair-Mädchen, eine Haushälterin und eine Putzfrau – dann kann ich auch sechs Kinder in die Welt setzen und Karriere machen und mich von der Presse bejubeln lassen. Diese Spiegel hier sind prima, jeder kann jeden sehen. Schade, dass die Föhne so laut sind, ich könnte sonst vielleicht verstehen, worüber die sich unterhalten. Vielleicht sollte ich mal lernen, von den Lippen zu lesen? Das muss man irgendwo lernen können, denn die Taubstummen können das auch nicht von Natur aus. Gibt es dafür Kurse an der Volkshochschule? Abgesehen davon, dass es vielleicht mal lebensrettend sein kann, so was zu können - was weiß ich, in welcher Situation - zum Beispiel hier beim Friseur wäre Lippenlesen sehr interessant. Man müsste mal, wenn man von den Lippen lesen könnte, einen ganzen Tag im Salon aufpassen, was die Prominenten vertrauensvoll ihrem Friseur erzählen und dann alles an die Zeitung verkaufen.
Die Bergmann-Köhler hat auch dünne Haare. In der Zeitung sieht sie immer aus, als hätte sie Volumen.
Jetzt kommt Aishe für meinen organischen Haarschnitt. Wenn ich bloß sehen könnte, wie meine Coloration gewirkt hat. Solange das Haar nass ist, kann ich die Farbe nicht erkennen. Diese Aishe macht richtigeKunststücke. Wie die mit der Schere umgeht, ist beängstigend! Als wollte sie jonglieren und nicht Haare schneiden. Wir sind doch hier nicht im Zirkus.
Die Bergmann-Köhler kriegt Strähnchen. Man müsste jetzt ein Foto von ihr machen. Mit der Alu-Folie auf dem Kopf ist der ganze Glamour nämlich weg. Früher war sie
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