01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
richtige Thema getroffen hatte, denn Annabel hatte die Blumen Englands während ihres Aufenthalts in Italien vermißt und hatte große Freude an den Gärten von Wentwater. Allmählich entspannte sie sich und erzählte begeistert von der Gartenarbeit.
Die leisen Klänge des Klaviers im Hintergrund wurden von Gesang abgelöst, als Fenella und James zusammen ein sentimentales Lied sangen, sie mit vorsichtiger Sopranstimme und er im robusten Bariton.
»Wie charmant«, applaudierte ihnen Lady Josephine.
»Es heißt >Lovely Lucerne<, Tante Jo. Endlich einmal ein Schlager, der nicht aus Amerika herübergekommen ist.«
»Ach, singt doch bitte noch ein Lied«, bat sie.
James legte Noten auf den Ständer, und die beiden gaben »The Raggle-Taggle Gypsies« zum besten. Annabel wurde blaß und verlor mitten im Satz den Faden. Lord Stephen starrte sie an, sein Blick zugleich aufmerksam und kalt. Mit einem boshaften Grinsen ging James die zweite Strophe an:
Spät in der Nacht kam Mylord nach Haus
und fragt nach seiner Lady.
Die Diener sagten Mann und Maus: Sie ist fort -
»Das reicht jetzt!« sagte Lady Josephine.
Die unschuldige Fenella hielt mit offenem Mund an und blickte erstaunt um sich.
Annabel stand auf. »Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich ... Es war ein anstrengender Tag heute. Ich gehe hinauf.« Sie verließ das Wohnzimmer.
»James, ich möchte jetzt Bridge spielen«, erklärte Lady Josephine. »Und du darfst mein Partner sein. Hat Drew die Karten ausgelegt?«
»Ja, Tante Jo, wie immer.«
Fenella und Geoffrey spielten nicht mit. Marjorie wurde auch zum Spielen verdonnert, aber Lord Stephen lehnte ab.
Daisy befürchtete schon, daß sie als nächste gebeten würde, doch kam Sir Hugh gerade rechtzeitig herein, um sie zu retten.
Während sich die vier zum Kartentisch begaben, sagte Lord Stephen: »Ich glaube, ich werde jetzt auch zu Bett gehen. Muß ja im Morgengrauen aufstehen, nicht wahr.« Er schlenderte hinaus, ohne Eile und dennoch zielstrebig. Daisy dachte entsetzt, daß sie irgend etwas tun müßte, doch nichts wollte ihr einfallen. Dann wandte Fenella sich ihr zu und sagte weinerlich: »Ich versteh das nicht, Daisy. Warum ...?«
»Ich vermute, Lady Josephine mag dieses Lied einfach nicht besonders«, sagte Daisy rasch und erkundigte sich dann nach dem Befinden der Petries zu Hause in Worcestershire.
Phillip und Wilfred kehrten bald danach von ihrer Billardpartie zurück, die Phillip sogar trotz des vereinbarten Handicaps gewonnen hatte. Er schlug eine Runde Rommé vor. Geoffrey war verschwunden. Die vier spielten, bis es Zeit für den Wetterbericht im Radio war. Gleichzeitig löste sich auch die Bridge-Runde auf, und alle hörten sich an, wie ein weiterer Tag mit kalten Temperaturen angekündigt wurde, ehe man sich für die Nacht zurückzog.
Auf dem Weg zu Bett ging Daisy in die Bibliothek, um sich dort das Buch über Wentwater Court zu holen, das Lady Josephine ihr empfohlen hatte. Obwohl der Abend friedlich geendet hatte, war die Atmosphäre angespannt gewesen, und sie hoffte, daß ein paar trockene historische Fakten sie gemütlich in den Schlaf wiegen würden. Durch die geöffnete Verbindungstür zu Lord Wentwaters Studierzimmer sah sie den Grafen, wie er in einem Ohrensessel am Feuer saß. Ein strenger, melancholischer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er wärmte ein Glas Brandy mit den Händen, und neben seinem Arm stand eine halbgefüllte Karaffe.
Vielleicht also war es Graf Wentwater doch nicht so gleichgültig, daß Stephen Astwick seiner jungen Frau nachstellte.
Daisy wünschte, er würde endlich durchgreifen und der Sache ein Ende bereiten.
Am Morgen stand Daisy mit der Sonne auf, was, wie Wilfred schon deutlich gemacht hatte, Anfang Januar nicht besonders früh war. Sie verzichtete auf das kalte Bad und verschob die Leibesübungen im Freien, zog sich warm an und ging hinunter in den Frühstücksraum, ein angenehm sonniges Zimmer, das nach Osten ging. James, Fenella und Sir Hugh waren schon dort. Sir Hugh ließ seine Financial Times kurz sinken, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, ehe er sich wieder hinter seinem Blatt verschanzte.
Sie nahm sich etwas Kedgeree aus der Schüssel auf der Anrichte und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
»Kommst du heute Morgen mit Schlittschuhlaufen, Daisy?«
fragte Fenella. »Ich weiß, daß du schrecklich beschäftigt bist, aber das Wetter hält sich ja vielleicht nicht, und so prachtvolles Eis gibt
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