01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
»Oh, Miss Daisy, das ist es also?«
Daisy beschloß, daß sie mit Aufrichtigkeit wohl am weitesten käme, obwohl sie keinesfalls vorhatte, die ganze Geschichte zu offenbaren. Wenn Annabel und Lord Wentwater wollten, daß die Mentons alles erführen, dann konnten sie ihnen das später selbst erzählen. »Ich fürchte ja, Lady Jo. Er ist für Lord Stephens Tod verantwortlich, obwohl es nicht in böser Absicht geschehen ist. Er hat nur versucht, Annabel zu beschützen.«
»Großartig, dieser Junge! Das Eis aufzuschlagen war schlicht eine wunderbare Idee. Wenn dieser miese Kerl nicht ertrunken wäre, dann hätte er sich danach bestimmt mit eingeklemmtem Schwanz aus Wentwater fortgeschlichen. Wie unglaublich peinlich aber auch, in den See zu plumpsen wie ein übermütiger Schuljunge.«
Diese Illusion raubte Daisy ihr nicht. Je weniger Menschen wußten, daß Astwick in der Badewanne ertrunken war, desto besser. »Verstehen Sie - wenn Geoffrey nicht weggeht, wird es einen Prozeß geben, und in den Zeitungen stehen dann die schrecklichsten Lügengeschichten.«
»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, stimmte ihr Lady Josephine mit einem Schaudern zu.
»Und wenn er weggeht ...«, begann Sir Hugh mit bedenklicher Stimme.
»Ich bin mir sicher, daß die Polizei die Angelegenheit dann fallen lassen wird und sie als Unfall behandelt«, unterbrach Daisy ihn rasch, wobei sie hinter dem Rücken die Hände faltete und im Stillen ein Gebet gen Himmel schickte. Bislang war sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihren Plan umzusetzen, um die möglichen Konsequenzen zu bedenken. »Aber er muß hier weg sein, ehe Chief Inspector Fletcher zurückkehrt, was jeden Moment der Fall sein kann. Glücklicherweise legt um drei Uhr ein Schiff aus Southampton ab.«
Alles drehte sich um und sah die Uhr an. Die Zeiger standen auf viertel nach zwölf.
»Das könnte also klappen«, sagte der Baronet zögerlich.
»Es wird gehen«, erklärte Lady Josephine. »Jetzt stell dich nicht so an, Hugh Liebling. Astwick war ein Widerling, und die Welt sollte Geoffrey dankbar sein.«
»Nun denn.« Kaum hatte Sir Hugh seine Entscheidung getroffen, brach bei ihm Geschäftigkeit aus. »Ich werde den Jungen mit meinem Automobil nach Southampton fahren. Henry, würdest du Hammond bitte sagen lassen, er soll sofort den Hispano-Suiza vorfahren, bitte? Ich muß meinen Vertreter in Southampton anrufen, damit er die Überfahrt organisiert, und ich muß für Geoffrey einen Kreditbrief schreiben. Und er sollte wohl lieber ein Empfehlungsschreiben an meinen Agenten in Rio dabeihaben, obwohl ich dem später noch vollständige Anweisungen telegraphieren werde. Darf ich deinen Schreibtisch benutzen?« Er bewegte sich bereits darauf zu, wobei er seinen Füllfederhalter aus der Tasche holte.
»Im zweiten Schubfach auf der linken Seite liegt Papier.«
Lord Wentwater hatte schon geklingelt. Jetzt nahm er das Tablett mit Getränken vom Schreibtisch und stand eher hilflos damit im Raum. »Miss Dalrymple, wo ist Geoffrey eigentlich hingegangen?«
»Ich hab ihm gesagt, er soll schon einmal mit dem Packen anfangen.« Sie nahm ihm das Tablett ab und deponierte es in den Händen des eintretenden Butlers. »Bitte nehmen Sie das fort, Drew.«
»Jawohl, Miss.«
Sie blickte sich um. Der Graf hatte sich abgewandt und lauschte nervös seinem Schwager, wie er eine Telephonistin bat ihn mit seinem Vertreter zu verbinden.
»Und Drew«, fuhr Daisy fort, »sagen Sie bitte Sir Hughs Chauffeur, er soll den Hispano-Suiza vorfahren. Sofort.«
»Sofort, Miss.«
»Vom Chief Inspector ist noch nichts zu sehen, oder?«
»Nein, Miss.«
»Gott sei Dank.«
Der Butler zog kaum merklich die Augenbrauen hoch. »Gibt es noch etwas, Miss?«
»Nein, danke sehr. Aber sagen Sie bitte Hammond, er soll sich beeilen.«
Während Annabel und Lady Jo sich leise unterhielten, folgte Daisy Drew aus dem Studierzimmer und sauste die Treppe hinauf, um Geoffrey zu suchen.
Sie klopfte an die Schlafzimmertür und trat nach seiner bedrückten Aufforderung ein. Das Zimmer war sparsam eingerichtet, das Auffälligste war ein Regal mit Sporttrophäen: Blaue, rote und weiße Rosetten und gravierte Silberpokale. Ein Gemälde von Stubbs, ein Pferd mit Stallknecht, hing an der Wand gegenüber dem Bett, und mehrere weniger qualitätvolle Gemälde, Zeichnungen und Photographien von Pferde-Schönheiten rundeten die Ausstattung ab.
Geoffrey hatte aus der Kammer zwei riesige Lederkoffer mit Messingbeschlägen
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