01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
erdacht worden; und so konnte sie nicht einfach jemand anderem überlassen, zu berichten, daß sich Geoffrey mittlerweile auf der Reise nach Brasilien befand.
Sie fürchtete Alecs Ankunft, und gleichzeitig machte sie sich langsam Sorgen, weil er noch immer nicht zurück war. Vor Stunden war Constable Piper losgefahren, um ihn zu suchen. Die Verhaftung eines Mordverdächtigen mußte doch einfach wichtiger sein als die Wiedererlangung einer Raubbeute, mochte sie noch so wertvoll sein? Er müßte längst wieder zurück sein.
Und wenn er auf die Einbrecher gestoßen war, und wenn die sich als eine Bande gewalttätiger Grobiane herausgestellt hatten, und wenn er jetzt verletzt war?
Schreckliche Vorstellungen wirbelten Daisy im Kopf herum, als sie sich zutiefst erschöpft in einen Sessel am Kamin in der Halle fallenließ.
Phillip trottete deprimiert herein, doch hellte sich seine Miene auf, als er sie entdeckte. »Was zum Henker ist hier eigentlich los, altes Haus?« fragte er. »Wohin sind denn alle verschwunden?«
»Ehrlich gesagt«, informierte ihn Daisy, »ist Geoffrey gerade nach Brasilien verschwunden, aber das behältst du bitte für dich, nicht wahr?«
»Du nimmst mich hoch«, sagte er ohne Verärgerung.
»Nein, Phil, ich bin viel zu toterschossenmüde, um dich auf den Arm zu nehmen.«
»Brasilien also? Jede Menge guter Geschäfte kann man da unten machen.«
»Das will ich hoffen, obwohl das nicht der einzige Grund ist, warum er fort ist.«
»Ach so, verstehe. Glaube ich. Der arme Kerl ist in ziemlicher Eile abgereist, was? Der Schnüffler ist noch nicht zurück?«
»Wenn du Detective Inspector Fletcher meinst«, sagte sie mit tadelndem Unterton, »nein, ist er nicht. Aber langsam frage ich mich auch, ob ihm irgendwas Schreckliches zugestoßen ist.«
»Mach dir keine Sorgen, mein Herz. Polizisten haben neun Leben, genau wie Katzen. Ich hoffe nur, daß er hier nicht vor dem Mittagessen aufkreuzt und den ganzen Schuppen in ein Hornissennest verwandelt.«
»Mittag!« Daisy richtete sich auf. »Natürlich, das ist es, was mir fehlt! Ich hab noch nicht gefrühstückt. Ich sterbe vor Hunger.«
Glücklicherweise mußte sie nicht mehr lange warten, bis Drew den Gong schlug. Trotz ihres Hungers erinnerte sie sich jedoch daran, den Butler eines zu bitten, ehe sie ins Eßzimmer eilte: »Ich weiß, daß man so was nicht tut, aber bitte lassen Sie es mich sofort wissen, wenn Chief Inspector Fletcher ankommt. Ehe Sie es seiner Lordschaft oder sonst jemandem sagen. Ich muß ihm dringend etwas sagen.«
»Sehr wohl, Miss«, versprach Drew und warf ihr einen Blick zu, in dem fast schon Achtung lag.
Während des Essens plauderten Phillip, Lady Josephine, Wilfred und Marjorie ein wenig angestrengt. Josephine und Wilfred verfielen jedoch ab und zu in ein nachdenkliches Schweigen. Sowohl Annabel als auch der Graf glänzten durch Abwesenheit.
Wie auch Alec, der immer noch nicht angekommen war, als ein Kaffee im Salon das Mahl abschloß. Daisys Sorge um ihn stand im Widerstreit zu ihrer Hoffnung, er möge erst dann ankommen, wenn die Orinoco sicher in See gestochen war. Sie war bereit, zu diesem Zweck Verzögerungstaktiken anzuwenden, aber viel lieber wäre ihr, wenn sie ihn nicht würde in die Irre führen müssen. Als sie sich an seinen durchdringenden Blick erinnerte, war sie sich auch nicht so sicher, daß sie damit Erfolg haben würde.
Vier der fünf Menschen im Wohnzimmer schauten dauernd verstohlen auf die Uhr. Als Daisy sich zum dritten Mal dabei erwischte (fünf nach zwei), beschloß sie, Annabel aufzusuchen.
Kaum hatte sie jedoch den Raum verlassen, traf sie im Korridor auf einen Diener, der von Lord Wentwater geschickt war und sie um ein paar Minuten ihrer Zeit bat. Mit einiger Sorge ging sie zu ihm ins Studierzimmer, denn sie fürchtete, er könnte seine Meinung geändert haben. Vielleicht hatte er beschlossen, daß sein Sohn doch die Suppe auslöffeln sollte, die er sich eingebrockt hatte, ohne Rücksicht auf die Folgen für seine Frau.
Lord Wentwater saß am Schreibtisch und schrieb. Die tiefen Falten in seinem sorgenvollen Gesicht erschreckten sie. Seine Haare und sein Schnurrbart schienen viel grauer geworden zu sein, und er wirkte um zehn Jahre gealtert. Kaum zu glauben, daß sie ihn erst vor drei Tagen kennengelernt hatte. Mit sichtlicher Anstrengung erhob er sich.
»Miss Dalrymple, ich wollte Sie nur kurz bitten. Ich hoffe, ich habe Sie nicht bei der Arbeit gestört.«
»Heute hab ich es noch nicht
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