01 - Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
geholt. Sie lagen offen auf dem Bett und waren zur Hälfte mit Jacken und Hosen gefüllt. Taktvoll ignorierte Daisy seine geröteten Augen und half ihm, den Inhalt seiner Kommode zu verstauen.
»Sie müssen sich keine Sorgen wegen Rio machen. Sir Hugh schreibt gerade seinem Vertreter einen Brief, und er wird ihm auch telegraphieren. An Ihrem Zielort wartet schon eine Stelle auf Sie.«
Mit erstickter Stimme platzte Geoffrey mit dem Gedanken heraus, der ihn quälte: »Ich werd sie nie wiedersehen.«
»Nein.« Da konnte sie ihm keinen Trost bieten.
»Fast würde ich lieber ins Gefängnis gehen, aber dann würde sie ja auch in den Prozeß hineingezerrt.«
»Das können Sie nicht tun«, sagte Daisy dringend. »Sie müssen einfach abreisen.«
»Ja, ich weiß.« Er kämpfte mit den Tränen. »Es ist wirklich das Beste, wenn wir uns nie wiedersehen, nicht wahr? Ich hab sie in eine unmögliche Situation gebracht.«
Daisy spürte selber einen Kloß im Hals, als sie nickte. Sie war genauso alt wie Geoffrey gewesen, als sie sich in Michael verliebt hatte, und nicht sehr viel älter, als das Telegramm kam, in dem man ihr seinen Tod mitteilte. Die Erinnerung daran schmerzte sie noch immer. Wie sollte Geoffreys Wunde jemals verheilen können, wenn die Frau, die er liebte, noch am Leben war, wenn auch in weiter Ferne? Sie konnte seinen Schmerz nicht als eine jugendliche Schwärmerei abtun, die er sicherlich bald verwinden würde.
Schweigend packten die beiden weiter. Daisy hatte gerade einen warmen Pullover zusammengefaltet -, wenn er ihn auch nicht in Brasilien brauchte, so wäre er an Bord des Schiffes praktisch -, als sie ein Geräusch hörte.
»Hör mal!«
Aus der Ferne kamen rasche Schritte den Korridor entlang.
Genau vor der Schlafzimmertür hielten sie inne. Geoffrey blieb stocksteif stehen, in den Händen ein Haufen zusammengerollter Strümpfe, und Daisy ließ sich auf das Bett sinken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Zu spät! Die Polizei war zurückgekehrt.
Die Schlafzimmertür ging langsam auf. Marjorie lugte durch der Spalt. Vor Erleichterung schwindelte Daisy fast. Aber ihr war klar, daß jetzt höchste Eile geboten war.
16
Marjorie betrat das Schlafzimmer. »Geoff! Dann stimmt es also wirklich. Du reist ab?«
Wilfred folgte ihr auf dem Fuße. »Du hast ihn also erledigt. Prachtvolle Arbeit. Ich gratuliere!«
Marjorie umarmte unter Tränen ihren Bruder, und Wilfred schüttelte ihm mit einer Kraft die Hand, die man diesem schlaffen jungen Mann gar nicht zugetraut hätte. Daisy betrachtete die beiden mit gereizter Resignation.
»Ich hoffe, Sie beide können den Mund halten«, sagte sie ärgerlich und warf eine letzte Lage Hemden in einen der Lederkoffer, um ihn dann zu schließen. »Los, jetzt aber schnell, wir müssen diese Dinger runter zum Automobil Ihres Onkels tragen.«
Geoffrey schloß den anderen Koffer und hob sie beide mühelos vom Bett.
»Ich helf dir tragen«, bot Wilfred an und versuchte, den kleineren der beiden anzuheben. Mit einiger Anstrengung bekam er ihn ungefähr drei Zentimer vom Boden. »Das kommt wohl vom ausschweifenden Leben«, sagte er mit einem verlegenen Lachen. »Naja, der Boxsport ist ja für mich eher nichts, aber vielleicht kann ich ja mit dem Reiten anfangen.«
»Paß gut auf Galahad auf«, sagte Geoffrey plötzlich, und er hielt den Kopf gesenkt, während er die beiden Koffer aufnahm und sich zur Tür aufmachte.
»Das werd ich, mein Bester, das werd ich.« Wilfreds Augen glitzerten verdächtig. »Ich vermute, ich werd mal etwas häufiger hier sein, nicht wahr. Nach einer Weile wird einem die Stadt doch langweilig.«
»Jetzt, wo ich Annabel besser kenne«, sagte Marjorie, »werd ich auch mehr zu Hause sein.«
Daisy folgte Geoffrey und Marjorie hinaus in den Korridor.
Hinter ihr holte Wilfred plötzlich tief Luft und stöhnte auf.
»Lieber Gott, was ist denn jetzt schon wieder los!«
Er blickte geradeaus den Korridor hinunter. Daisy lugte an Geoffreys massiger Gestalt vorbei und sah James in der Tür seines Zimmers stehen, wie er sie beobachtete. Sein schweres Kinn hatte er hochgereckt und sein Gesicht war wie versteinert.
Als Geoffrey bei ihm ankam, zögerte er. Dann stellte er einen Lederkoffer ab und reichte ihm die Hand. James starrte ihn einen Moment lang an, ehe er mit offensichtlichem Widerwillen knapp die Hand seines Bruders schüttelte. Ohne weitere Umstände zu machen, ging er dann wieder zurück in sein Zimmer und schloß die Tür.
So unbeholfen
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