01 - Nacht der Verzückung
hatte. Es wäre um einiges besser für ihn, wäre sie
gestorben. Nicht, dass er gefühllos wäre. Das niemals. Aber ...
»Du
warst tot«, sagte er und auf einmal erkannte sie, dass der Pfad eine Abkürzung
zu dem Strand war, an dem sie die Nacht verbracht hatte. Sie hatten die Bäume
hinter sich gelassen und stiegen den Hügel hinab, wobei sie mit
halsbrecherischer Geschwindigkeit durch das Farnkraut stapften. »Ich sah dich
sterben, Lily. Ich sah dich tot mit einer Kugel im Herzen. Harris berichtete
mir später, dass du gestorben seist. Du und elf andere.«
»Die
Kugel verfehlte mein Herz«, sagte sie. »Ich wurde wieder gesund.«
Als sie
die Talsohle erreicht hatten, blieb er stehen und blickte zu dem Wasserfall,
der in einem aufsehenerregenden Band aus weißem Schaum über eine mit Farn
bewachsene Klippe in den darunter liegenden kleinen Teich schoss und weiter in
den Bachlauf zum Meer. Die winzige, strohgedeckte Hütte, die Lily in der Nacht
zuvor bemerkt hatte, stand oberhalb des kleinen Teiches. Ein Pfad führte zur
Tür, doch es gab kein Anzeichen dafür, dass das Haus bewohnt war.
Er
wandte sich in die andere Richtung und marschierte mit ihr zum Strand. Lily,
die sich durch den langen, strammen Fußmarsch überhitzt fühlte, löste mit der
freien Hand die Bänder ihrer Haube und ließ sie hinter sich in den Sand fallen.
In der Nacht hatte sie einige Haarnadeln verloren. Die wenigen verbliebenen
waren der Aufgabe, ihre lockigen, widerspenstigen Haare zu bändigen, nicht
gewachsen. Es fiel ihr offen über die Schultern den Rücken hinab. Sie
schüttelte den Kopf und ließ es sich von der Brise aus dem Gesicht pusten.
»Lily«,
sagte er und sah sie an - zum ersten Mal, seit sie die Kirche verlassen
hatten. »Lily. Lily.«
Sie
wanderten nicht den festen, ebenen Sandstrand entlang, sondern gingen hinunter
ans Meer. Am Wasser blieben sie stehen. Wären sie doch noch immer durch den
Ozean getrennt, dachte Lily. Wäre sie doch nur in Portugal geblieben. Es wäre
um ihrer beider willen besser gewesen.
Er
hätte die andere Frau geheiratet.
Sie
hätte nicht erfahren, dass er sie so schnell vergessen, dass sie ihm so wenig
bedeutet hatte.
»Du
lebst.« Endlich hatte er ihre Hand losgelassen, aber jetzt drehte er sich zu
ihr, blickte mit forschenden Augen in ihr Gesicht und hob eine Hand. Er
zögerte, bevor er mit den Fingerspitzen ihre Wange berührte. »Lily. Oh, mein
Liebling, du lebst!«
»Ja.«
Sie war am Ende ihrer Reise angekommen. Oder vielleicht auch nur am Anfang
einer anderen. Er stand da in der ganzen Pracht des Grafen von Kilbourne.
***
Plötzlich wurde
Neville bewusst, dass er sich am Strand befand, am Meeresufer. Er hatte keine
Ahnung, weshalb er ausgerechnet hierher gekommen war. Oder doch. Das Haus würde
bald wieder mit Gästen gefüllt sein und dies hier war der Ort, den er immer
aufsuchte, um allein zu sein. Um nachzudenken.
Aber er
war nicht allein. Lily war bei ihm. Er berührte sie. Sie war warm und
lebendig. Sie war klein und dünn und schön und armselig und ihr langes Haar
wehte wild im Wind.
Sie war
- o Gott, sie war Lily.
»Lily«,
sagte er und blinzelte hinaus auf die See, ohne das Wasser oder die
Unendlichkeit dahinter wirklich zu sehen, »was ist geschehen?«
Bewusstlos
war er aus der Schlucht getragen worden. Lieutenant Harris hatte ihm im
Krankenhaus erzählt, dass Lily und elf seiner Männer, einschließlich des
Kaplans Reverend Parker-Rowe, ihr Leben gelassen hatten. Die Kompanie
hatte bei ihrer Flucht nur die Tornister und die Verwundeten mitnehmen können.
Sie waren gezwungen gewesen, es den zurückkehrenden Franzosen zu überlassen,
die Habseligkeiten der Toten zu plündern und sie zu begraben.
In den
anderthalb Jahren danach hatten Schuldgefühle an Neville genagt. Er hatte darin
versagt, seine Männer zu schützen. Er hatte Sergeant Doyle enttäuscht. Er hatte
Lily im Stich gelassen - seine Frau.
»Sie
brachten mich nach Ciudad Rodrigo«, sagte sie, »und ein Chirurg entfernte die
Kugel. Sie verfehlte mein Herz um Schnurrhaaresbreite, sagte er mir - er
gebrauchte dieses Wort. Er sprach unsere Sprache. Wie ein paar von ihnen. Sie
waren nett zu mir.«
»Waren
sie das?« Er drehte den Kopf und sah sie durchdringend an. »Haben sie deine
Papiere gefunden, Lily? Haben sie dich gut behandelt? Mit Respekt?«
»0 ja.«
Sie sah zu ihm auf und er blickte wieder in diese großen, arglosen Augen, so
blau wie ein Sommerhimmel. Sie hatten sich nicht verändert. »Sie waren
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