01 - Nacht der Verzückung
entschloss sie sich, jede Anrede zu
vermeiden.
»Es
sind die Gemächer der Gräfin«, sagte er. Mit einem Kopfnicken deutete er auf
eine Tür, die sie noch nicht entdeckt hatte. »Dahinter findest du das
Ankleidezimmer.«
Gräfin?
Die Gräfin musste seine Gattin oder seine Mutter sein. Doch er würde sie kaum
in die Gemächer seiner Mutter bringen. Und jene groß gewachsene Frau in der
Kirche hätte seine Ehefrau werden sollen, seine Gräfin. Aber es war ihm nicht
möglich gewesen, sie zu heiraten, weil er bereits mit ihr, Lily, verheiratet
war. Das machte sie ... zur Gräfin. Wirklich? Bis zu diesem Moment hatte sie
wahrhaftig noch nicht darüber nachgedacht. Sie war verwirrt gewesen, als ihre
französischen Häscher sie mit »Mylady« angesprochen hatten, und war sich erst
dann bewusst geworden, dass sie die Viscountess Newbury war. Aber das war vor
langer, langer Zeit gewesen.
»Soll
das mein Zimmer werden?«, fragte sie. »Soll ich also bleiben?«Sie hatte nie
über das Ende ihrer Reise hinaus gedacht. Tief in ihrem Inneren hatte sie
gewusst, dass sich ein Graf wohl zweifellos unter dem geringsten Vorwand der
Tochter eines Sergeants entledigen konnte - und der Graf von Kilbourne
hatte einen Vorwand, der kaum gering zu nennen war. Aber sie hatte versucht,
sich auf die Tatsache zu konzentrieren, dass der Graf von Kilbourne zugleich
Major Lord Newbury war. Ihr Major Lord Newbury, der Mann, den sie seit jeher
bewundert, vertraut, angehimmelt hatte. Neville. Ihr Gemahl. Ihr Liebhaber. Ihre
Liebe. Doch als sie dort im Zimmer der Gräfin stand, wusste sie, dass sie nie
mit einem glücklichen Ende gerechnet hatte. Nur mit irgendeinem Schlusspunkt.
»Lily.«
Er trat auf sie zu und sie erkannte, dass er genauso verwirrt und befangen war
wie sie selbst. Vielleicht noch mehr. Er war auf das, was ihm an diesem Morgen
widerfahren war, nicht vorbereitet gewesen. »Lass uns nicht in die Zukunft
blicken. Du lebst. Du bist hier. Und du bist in den Gemächern der Gräfin. Um zu
essen und um dich auszuruhen. Tue beides, bevor wir weiterreden.«
»Ja. Das
werde ich.« Ja, sie wollte vergessen, mehr als alles andere auf der Welt. Sie
wusste nicht, wie sie sich noch länger auf den Beinen halten sollte, noch
länger die Augen offen hatten und ihren Verstand auf irgendetwas anderes
richten sollte als auf das Bedürfnis zu schlafen.
Hinter
Lily öffnete sich eine Tür und sie drehte sich um und erblickte ein junges
Mädchen in schlichtem, schwarzem Gewand mit weißer Schürze und Diensthaube,
glotzäugig und knicksend. Neville gab ihr Anweisungen, während Lily zum Fenster
ging und mit schweren Augenlidern hinaussah. Er bestellte genug Essen, um eine
ganze Armee zu verköstigen. Und ein heißes Bad - welch ein unglaublicher
Luxus!
Als das
Dienstmädchen gegangen war, stand er plötzlich hinter ihr. »Ich werde bleiben,
bis das Essen kommt«, sagte er. »Dann werde ich dich allein lassen. Wenn du
fertig bist, werden im Ankleidezimmer Wasser und Nachtwäsche auf dich warten.
Leg dich hin und schlaf. Ich werde später wiederkommen. Dann werden wir reden.«
»Danke,
Sir«, sagte sie und kam sich sofort töricht vor.
Unvermittelt
fragte sie sich, ob es einstmals, für eine kurze Nacht, wirklich ein Auflodern
der Liebe gegeben hatte seltsam verwoben mit der tiefen Trauer um ihren Vater. Beide
Gefühle hatte sie mit diesem Mann geteilt, mit diesem Fremden, der ihr Ehemann
war. Liebe - oder das, was manchmal mit diesem Begriff bezeichnet wurde -
hatte seit jener Nacht eine so hässliche Fratze getragen, dass sie kaum glauben
konnte, dass Liebe jemals hatte schön sein können. Aber das war sie einmal
gewesen. Einmal. Ein einziges Mal in ihrem Leben. Mit ihm - mit Major
Lord Newbury. Mit Neville.
Es war
die schönste Erfahrung ihres Lebens gewesen. All die Liebe, die sie heimlich in
ihrem Herzen gehütet hatte, seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte in
jener Nacht fleischlicher Leidenschaft ihren Höhepunkt erfahren. Und sie hatte
daran geglaubt - sie hatte gespürt, dass es eine gemeinsam empfundene
Liebe war, obwohl sie danach erfahren musste, dass Männer zur Leidenschaft
fähig waren, ohne auch nur einen Hauch von Liebe zu verspüren. Und auch dann
konnten sie Liebkosungen murmeln.
Hatte
sie sich nur eingebildet, dass Neville in jener Nacht beides gefühlt hatte,
Liebe und Leidenschaft? War es nur ihre Naivität gewesen - oder das
Bedürfnis, das in den Monaten nach jener Nacht gewachsen war, ein einziges Mal,
nur für
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