01 - Nacht der Verzückung
eine einzige kurze Nacht, einen Mann geliebt zu haben, der ihre Liebe
erwiderte?
Sie
wurde aus ihren Erinnerungen gerissen, als das Tablett mit dem Essen gebracht
und auf einem eleganten kleinen Tisch abgestellt wurde. Neville zog einen Stuhl
zurück, ließ Lily Platz nehmen und rückte den Stuhl an den Tisch heran. Das
Essen hätte wirklich für eine Armee gereicht. Hungrig betrachtete sie einige
gekochte Eier, während er ihr eine Tasse Tee eingoss.
»Ich
werde dich jetzt allein lassen«, sagte er dann und ergriff mit beiden Händen
ihre rechte Hand. »Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich ich bin, dass du
nicht gestorben bist, Lily. Ich bin so froh, dass du auch alles andere überlebt
hast.« Er hob ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Finger, bevor er sich
umdrehte, den Raum verließ und leise die Tür hinter sich schloss.
War er
wirklich froh?, fragte sie sich, als sie ihm hinterherstarrte. Abgesehen davon,
dass er kein grausamer Mensch war und ihr sicher nicht den Tod wünschte, war er
wirklich froh? Dass sie überlebt hatte, ja, vielleicht. Aber dass sie in sein
Leben zurückgekehrt war, um es zu erschweren? War er erfreut, dass es durch
irgendeinen geisterhaften Zufall am Tag seiner Hochzeit mit einer anderen Frau
geschehen war?
Wie
sollte er erfreut sein? Besonders seit er wusste, was mit ihr geschehen war.
Welche
Braut begehrte er? Lily dachte nach. Die andere war schön. Lily hatte sie nicht
gut sehen können und ihr Gesicht war von ihrem Schleier bedeckt gewesen, aber
sie hatte den Eindruck von Anmut und Eleganz und Schönheit vermittelt. Liebte
er sie? Liebte sie ihn? Waren sie für einander geschaffen? Waren sie nur wenige
Minuten von der Erfüllung ihres Glückes entfernt gewesen?
Doch
solche Grübeleien brachten sie nicht weiter. Außerdem war es unmöglich
nachzudenken, wenn jeder Gedanke wie ein bleiernes Gewicht auf ihren
Augenlidern lastete. Lily ergriff die Tasse und nippte an dem heißen Tee. Sie
schloss die Augen vor Wonne.
Wenn es
ihr nach ihrer Rückkehr nach Lissabon nur möglich gewesen wäre, den Tornister
ihres Vaters ausfindig zu machen. Aber es war viel zu viel Zeit vergangen.
Vermutlich war er nach England zurückgeschickt worden, wurde ihr letztendlich
mitgeteilt, zu irgendwelchen entfernten Verwandten, wenn er nicht einfach
verloren gegangen oder vernichtet worden war. Papa hatte einen Vater und einen
Bruder, die irgendwo lebten - war es in Leicestershire? Lily wusste es
nicht so genau und sie hatte sie niemals kennen gelernt. Ihr Vater hatte sich
ihnen entfremdet. Aber als sie älter wurde, hatte er ihr immer und immer wieder
gesagt, dass sie, sollte er einmal unverhofft zu Tode kommen, seinen Tornister
zu einem Vorgesetzten bringen und ihm das darin enthaltene Päckchen zeigen
sollte. Es sei ihr Schlüssel zu einer gesicherten Zukunft, hatte er immer
gesagt, genau wie das goldene Amulett, das sie immer als Talisman getragen
hatte.
Sie
nahm an, dass ihr Vater sein Leben lang einen Teil seines Soldes für sie
aufgespart hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Geld in diesem Päckchen
gewesen sein mochte. Es hätte wahrscheinlich nicht lange gereicht, aber es
hätte sie zurück nach England und in ein gutes Arbeitsverhältnis gebracht. Mit
diesem Geld hätte sie nicht hierher nach Newbury Abbey kommen müssen. Obwohl
sie das ohnehin getan hätte. Das Einzige, was ihr während ihrer beiden
Gefangenschaften Kraft gegeben hatte, war der Gedanke an ihn gewesen und
die Hoffnung, ihn wiederzusehen. Bis vor kurzem, noch nach ihrer Ankunft in
England, hatte sie nicht wirklich an die Sinnlosigkeit ihres Vorhabens
geglaubt. Erst seit gestern Abend, nachdem sie seine Welt und sein Zuhause
gesehen und betreten hatte.
Sie war
seine Gemahlin - aber streng genommen war sie ebenfalls eine
Ehebrecherin.
Hätte
sie den Tornister und das Geld gefunden, wäre sie jetzt nicht so sehr auf ihn
angewiesen ...
Als sie
das erste Ei verspeist hatte und in ihren zweiten Toast biss, schloss Lily
plötzlich in einem Anflug von Panik die Augen. Ihr Medaillon. Es war in ihrer
vermissten Tasche. Sie hatte es lange nicht mehr getragen, seit Manuel es ihr
vom Hals gerissen hatte. Wie durch ein Wunder hatte er es ihr zurückgegeben,
als er sie freiließ. Seither hatte sie es nicht mehr aus der Hand gegeben -
bis zu diesem Morgen.
Würde
Neville ihre Tasche finden? Sie hätte sich selbst auf die Suche begeben, aber
sie war sich nicht sicher, ob sie aus dem Gebäude hinausfinden würde.
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