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01 - Nacht der Verzückung

01 - Nacht der Verzückung

Titel: 01 - Nacht der Verzückung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Balogh
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diesem kleinen Winkel des Tals, das ihn vom Strand oder von
irgendeinem anderen Bereich des Parks - oder irgendeinem anderen Ort auf
der Erde - deutlich unterschied. Neville hatte Recht und sie hatte Recht
gehabt - es war einer der besonderen Orte dieser Welt, einer der Orte, wo
etwas durchbrach. Sie zögerte, dieses Etwas als Gott zu bezeichnen. Der Gott
der Kirchen und großen Religionen engte die Menschen nur ein. Dies war einer
jener Orte, an denen Sinn durchbrach und an denen sie spürte, dass sie
alles verstehen könnte, wenn sie nur die richtigen Gedanken und Worte fände,
um es zu beschreiben.
    Aber
andererseits ließ sich Sinn nicht in Worte fassen. Es war ein Mysterium, in das
man Vertrauen setzen musste.
    Es
brauchte Mut, um Orten wie diesem zu vertrauen. Sie hatte ihren Mut am
Nachmittag des Picknicks verloren. Sie musste ihn wiederfinden.
    Sie
stellte sich auf das üppige Farnkraut, das am Ufer des Teiches wuchs. Nach
einigen Minuten löste sie die Bänder ihres Umhangs und warf ihn zur Seite. Nach
kurzem Zögern zog sie auch ihr altes Kleid aus und entledigte sich ihrer
Schuhe, bis sie nur noch im Hemd dastand. Die Luft war kühl, aber für jemanden,
der die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbracht hatte, war es nicht
unangenehm kalt. Und es verlangte sie danach, zu spüren. Sie stand ganz
still. Nach einigen Minuten legte sie den Kopf in den Nacken und schloss die
Augen. Die Schönheit der Szene im Mondlicht drohte all ihre Aufmerksamkeit an
sich zu ziehen. Sie wollte die Laute von Wasser und Insekten und Möwen hören.
Und sie wollte das Farnkraut und das frische Wasser des Wasserfalls, das Salz
des Meeres riechen. Und die kalte Nachtluft auf ihrer Haut spüren und den Farn
und die Erde unter ihren nackten Füßen.
    Als all
ihre Sinne auf ihre Umgebung eingestimmt waren, öffnete sie wieder die Augen.
Sie blickte in das dunkle, unergründliche Wasser des Teiches. Die Dunkelheit,
die einen glauben machen wollte, dass man sich vor etwas zu fürchten habe, war
eine Illusion. Der Teich wurde von dem hellen Sturz glitzernder Wassertropfen
genährt und nährte seinerseits das schimmernde Meer. Dunkelheit und Licht -sie
gehörten zusammen, sich ergänzende Gegensätze.
    »Woran
denkst du?«
    Die
Stimme - seine Stimme - war hinter ihr, nicht weit entfernt. Die
Worte waren leise gesprochen worden. Sie hatte sein Näherkommen weder gesehen
noch gehört, aber sie war seltsamerweise nicht erschrocken, nicht überrascht.
Nichts von jenem Schrecken, jenem beängstigenden Gefühl, dass etwas Bedrohliches
auf sie zukam, das sie auf dem Rhododendronweg und am Morgen im Wald verspürt
hatte. Es schien ihr richtig, dass er gekommen war. Sie spürte, dass es genauso
sein musste. Was an diesem Ort fehlgegangen war, konnte nur wieder gerichtet
werden, wenn er hier bei ihr war. Sie drehte sich nicht um.
    »Dass
ich dies hier nicht nur beobachte«, sagte sie, »sondern dass ich ein Teil
davon bin. Die Menschen reden oft davon, die Natur zu beobachten. Indem sie so
reden, entfernen sie sich von dem, was in Wirklichkeit ein Teil von ihnen ist.
Sie verlieren einen Teil ihres Seins. Ich sehe mir das nicht bloß an. Ich bin es.«
    Sie
überlegte sich ihre Worte nicht, plante sie nicht, formulierte keine
Lebensphilosophie. Sie sprach aus ihrem Herzen zu seinem Herzen. Sie hatte sich
noch nie einem anderen Menschen so tief mitgeteilt. Aber es schien ihr richtig,
es bei ihm zu tun. Er würde es verstehen. Und er würde es gutheißen.
    Er
sagte nichts. Dennoch sagte eben sein Schweigen alles. Plötzlich herrschte ein
Gefühl vollkommenen Friedens, vollkommener Gemeinschaft.
    Und
dann war er neben ihr und berührte mit dem Rücken seiner Finger ihr Haar an
den Schläfen. »Dann muss das verbliebene Kleidungsstück auch noch fallen,
kleine Wassernymphe«, sagte er.
    In
seinen Worten lag nicht ein Hauch von Anzüglichkeit. Sie drückten nur das
Verständnis und die Billigung aus, die sie erwartet hatte. Während sie die Arme
kreuzte und sich das Hemd über den Kopf zog, zog er sich Jacke, Weste und Hemd
aus.
    »Du
hattest doch vor zu schwimmen, oder?«, fragte er sie.
    Ja. Sie
hatte nicht bewusst daran gedacht, doch ja, es wäre der nächste natürliche
Schritt gewesen, selbst wenn er es nicht für sie ausgesprochen hätte. Sie
musste in die Wasser des Teiches eintauchen, um sich zu einem unlösbaren Teil der
Schönheit und des Friedens zu machen, die ihr in dieser Nacht zurückgegeben
worden waren - ein vollkommenes

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