01 - Nacht der Verzückung
er sich in
perfekter Harmonie mit ihren Gedanken, »hast du da kein Bedauern darüber verspürt,
was du ihm gesagt oder für ihn getan hättest, hättest du gewusst, dass er an
jenem Tag würde sterben müssen? Oder warst du dir immer bewusst, dass er als
Soldat jederzeit sterben könnte, sodass du nichts ungesagt, nichts ungetan
gelassen hast?«
»Ich
denke Letzteres«, sagte sie, nachdem sie einige Zeit über die Frage nachgedacht
hatte. »Ich hatte das Glück, mein ganzes Leben, bis zu seinem letzten Tag, mit
ihm verbringen zu dürfen. Ich hatte das Glück, einen Vater zu haben, der mich
voll und ganz liebte und den ich vorbehaltlos liebte. Ich wünsche mir
allerdings ... ich wünsche mir wirklich, ich hätte erfahren können, was er mir
so unbedingt nach seinem Tod hatte vermachen wollen. Er hat immer wieder
betont, dass etwas in seinem Tornister für mich bestimmt war. Aber ich hatte
keine Gelegenheit zu sehen, was es war - er hatte ihn auf dem Stützpunkt
zurückgelassen. Aber das Wichtigste ist, dass ich weiß, dass er mich liebte und
versuchte, für meine Zukunft zu sorgen.« Sie sah zu Neville auf, der mit gespreizten
Beinen locker und dennoch elegant in seinem Sessel saß. »Du hattest nicht so
viel Glück?«
»Mein
Vater war ein Planer«, sagte er. »Er hatte Gefallen daran, die Leben derer, die
er liebte, zu planen. Er tat es natürlich, weil er uns liebte. Er hat unsere
Leben für uns geplant - Gwens und Laurens und meins. Ich rebellierte. Ich
wollte mein eigenes Leben. Ich wollte meine eigenen Entscheidungen treffen.
Manchmal war ich dabei regelrecht boshaft. Mein Vater war dagegen, dass ich mir
ein Offizierspatent zulegte, aber als er schließlich nachgab und versuchte, ein
namhaftes Kavallerieregiment für mich auszuwählen, bestand ich auf einem
Regiment der Infanterie, was er für unter der Würde seines Sohnes erachtete.
Ich liebte ihn, Lily. ich wäre nach einiger Zeit aus dem Alter der Rebellion
herausgewachsen und wäre ihm nahe gekommen, glaube ich. Aber er starb, bevor
ich ihm die Dinge sagen konnte, die er zu hören verdiente.«
»Er hat
es gewusst.« Sie umklammerte ihre Knie. »Wenn er dich so sehr liebte, wie du sagst,
dann hat er dich auch verstanden. Er hat lange genug gelebt, um die
verschiedenen Stadien des Lebens zu kennen. Und ich glaube, dass Rebellion für
viele Menschen in der Jugend normal ist. Du darfst dir nicht die Schuld geben.
Du hast nichts getan, ihn zu entehren. Ich bin sicher, dass er auf dich stolz
war.«
»Und
was macht dich, im fortgeschrittenen Alter von zwanzig, so weise?«, fragte er
mit einem Lächeln auf den Lippen und in den Augen.
Ach
habe in diesen zwanzig Jahren viele Menschen getroffen und ihnen zugehört«,
sagte sie. »Den unterschiedlichsten Menschen. jeder ist einzigartig, aber ich
habe festgestellt, dass es auch gemeinsame Merkmale von Menschlichkeit gibt.«
»Ich
wünschte, ich hätte deine Mutter gekannt«, sagte er. »Sie war eine jener unbezähmbaren
Frauen, die auch noch mit Kindern auf dem Arm der Trommel folgen. Es ist
natürlich mein Glück, dass sie es tat und dass dein Vater dir so zugetan war,
dass er dich bei sich behielt, nachdem sie gestorben war. Sie haben eine ganz
besondere Tochter hervorgebracht.«
»Weil
sie ganz besondere Menschen waren«, sagte sie. »Ich wünsche mir auch, ich hätte
Mama besser gekannt. Ich erinnere mich an sie, aber mehr als ein Gefühl denn
als eine bestimmte Person. Unendliche Behaglichkeit und Sicherheit und Toleranz
und Liebe. Ich hatte sehr viel Glück, sie auch nur für die kurze Zeit zu haben
und Papa gehabt zu haben. Auch du hast Glück, einen solchen Vater gehabt zu
haben -einen, der so viel für dich empfand, dass er dich gehen ließ. Er
tat das für dich, weißt du. Er besorgte dir dein Offizierspatent und erlaubte
sogar, dass du ein Regiment wähltest, das er missbilligte. Ich bin um
meinetwillen froh, dass er es tat.«
Sie
lächelten sich an.
Sie
unterhielten sich eine ganze Stunde lang, während das Feuer herunterbrannte,
Holz nachgelegt wurde und erneut herunterbrannte. Sie sprachen über Gott und
die Welt und zwischen ihnen herrschte ein Wohlbehagen und eine
Ausgeglichenheit, wie es sie in der vergangenen Woche nicht gegeben hatte. Es
war ganz wie in alten Zeiten.
Schließlich
stellten sich in ihrem Geplauder längere Pausen ein, zuerst geselliger Natur,
aber unausweichlich mehr und mehr aufgeladen mit etwas anderem. Lily war sich
der veränderten Atmosphäre völlig bewusst, und sie
Weitere Kostenlose Bücher