01 - Nacht der Verzückung
für viele kommende Abende war. Und die Tage, die sie durchlebt
hatte, würden sich über die Jahre immer wieder aufs Neue wiederholen.
Vielleicht
würde sie sich anpassen können. Vielleicht würden die zukünftigen Wochen nicht
so schwierig werden, wie es die letzte gewesen war. Aber irgendetwas war für
immer aus ihrem Leben verschwunden - eine Hoffnung, ein Traum.
Furcht
hatte ihren Platz eingenommen.
Furcht
vor einem unbekannten Mann. Oder vielleicht war er gar nicht unbekannt. Der
Herzog von Portfrey beobachtete sie im Haus ständig. Warum nicht auch außerhalb
des Hauses, wenn sie sich wünschte, allein zu sein? Aber vielleicht war es
nicht der Herzog. Vielleicht war es ... Lauten. Sie kam täglich zum Herrenhaus
und hängte sich beständig an Lily, umsorgte sie ständig, um ihr Wohlergehen
besorgt und eifrig bemüht, ihr beizubringen, was sie nicht wusste, und für sie
Dinge zu erledigen, die sie nicht tun konnte. Sie war die Freundlichkeit und
Güte in Person. Sie war so ziemlich das Gegenteil dessen, was man von ihr
erwartet hätte. Irgendetwas stimmte nicht mit der Unbeschwertheit, mit der sie
sich in ihre Situation fügte. Allein der Gedanke an sie ließ Lily frösteln.
Vielleicht war es Lauten, die es für notwendig erachtete, ein Auge auf sie zu
haben, auch wenn sie allein war. Vielleicht versuchte Lauten auf irgendeine
teuflische Art und Weise, es ihr in Gesellschaft so unangenehm wie möglich zu
machen und sie so zu verängstigen, wenn sie allein war, dass sie von selbst
fortgehen würde.
Und
vielleicht, dachte Lily und schüttelte diese Gedanken von sich, war das Ganze
nur ein Hirngespinst, männlich oder weiblich, bekannt oder unbekannt.
Angst,
hatte sie erkannt, als sie an ihrem Schlafzimmerfenster stand und
sehnsuchtsvoll hinausblickte, war ein Gefühl, von dem sie sich nicht
beherrschen lassen durfte. Das wäre ihre endgültige Vernichtung. Sie hatte ihr
einmal nachgegeben, als sie Leben und Prostitution Folter und Tod vorzog. In
vielerlei Hinsicht hatte sie sich diese Wahl verziehen. Wie Neville gesagt
hatte - und auch ihr Vater ihr beigebracht hatte -, es war die
Pflicht eines Soldaten, in Gefangenschaft zu überleben und zu entkommen, sobald
sich die Gelegenheit bot. Sie war im Krieg gefangen genommen worden. Doch für
sie war der Krieg jetzt vorbei. Sie war in England. Sie war zu Hause. Sie
durfte keinem namenlosen Schrecken erlauben, von ihr Besitz zu ergreifen.
Und so
war sie nach draußen gegangen - im Begriff, sich ihrer größten Angst zu
stellen. Die Person mit dem Umhang, die sie neulich auf dem Rhododendronweg und
heute Morgen im Wald gesehen hatte, war nicht ihre größte Angst. Es war die
Hütte.
Die
Nacht war ruhig und hell vom Licht des Mondes und der Sterne. Auch war es fast
warm. Der Umhang, den sie trug, schien unnötig zu sein, aber vielleicht würde
sie ihn im Tal brauchen, dachte Lily, als sie über die Wiese eilte und den Pfad
durch die Bäume fand. Besonders wenn sie die Nacht über bliebe. Sie dachte, sie
würde es so machen wie in der ersten Nacht, als ihr auf Newbury Abbey der
Zutritt verwehrt worden war. Sie dachte daran, am Strand zu schlafen, nachdem
sie sich gezwungen hätte, zur Hütte zu gehen -obgleich nicht
notwendigerweise hinein. jetzt, da sie das Haus hinter sich gelassen hatte,
hatten sich einige ihrer Ängste bereits verflüchtigt, und sie glaubte nicht,
dass sie in der Lage sein würde, sich dazu zu bringen, zum Haus zurückzukehren.
Sie wünschte sich, nie wieder dorthin zurückkehren zu müssen.
Als sie
das Tal erreichte, blieb sie stehen. Der Strand mit der vom Mond beschienenen
See in der Gezeitenmitte sah verlockend aus. Der Sand formte im Mondlicht ein
helles Band. Es würde sie bis tief in die Seele beruhigen, dort barfuß
spazieren zu gehen - vielleicht wieder auf den Felsen zu klettern. Aber
deshalb war sie nicht hergekommen. Widerwillig wandte sie den Kopf ab, um das
Tal hinaufzuschauen.
Es war
eine entrückte Welt, die farnbewachsene Klippe dunkelgrün und geheimnisvoll,
der Wasserfall ein silbernes Band, die Hütte so sehr Bestandteil ihrer
Umgebung, dass sie eher wie ein Teil der Natur aussah und nicht wie ein von
Menschenhand erbautes Gebäude. Sie musste an diesen Ort zurückkehren, wollte
sie den Scherbenhaufen ihres Lebens irgendwie wieder zusammenfügen.
Sie
wandte sich langsam in die Richtung und näherte sich mit zögernden Schritten
dem Teich. Doch als sie näher kam, wusste sie, dass sie das Richtige tat. Es
gab etwas in
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