01 - Schatten der Könige
bedrohlich. Unauffällig lockerte sie den Säbel in der Scheide, und zwang sich zu einem leisen Lachen. »Ich meine, du hörst zu viel auf das Gerede der Flüchtlinge, Domas«, erwiderte sie. Domas betrachtete sie einen Moment gelassen, schüttelte dann den Kopf und grinste. »Ach, Keren, Keren. Welches Geheimnis auch immer du hütest, bei mir ist es sicher.« Er deutete auf ein langes, niedriges Zelt hinter einigen Bäumen. »Dort werden die Kranken behandelt, und da dürfte deine Freundin sich aufhalten. Wenn du wieder aufbrechen willst, findest du mich in der Nähe des Zeltes unseres Generals. Allerdings würde ich dir empfehlen, bis morgen zu warten.« Sie nickte und entspannte sich ein wenig. »Danke, Domas.«
Er winkte ab. »Das ist doch nichts.« Er wollte sich schon umdrehen, hielt jedoch inne und sagte: »Und Keren … Denk dir beim nächsten Mal eine etwas ausführlichere und überzeugendere Geschichte aus, hm?«
Leise lachend ging er den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Keren war wütend auf sich selbst, als sie zwischen den Bäumen hindurch zu dem Zelt ging. Domas hatte recht. Sie hätte sich eine plausiblere Erklärung überlegen sollen, die zur Not auch einem Verhör standhielt. Sie seufzte. Manchen Menschen, wie zum Beispiel Gilly, fiel es leicht, Lügen zu ersinnen und Geschichten aus dem Nichts zu erfinden. Es war seine Natur. Wäre er an ihrer Stelle gewesen, hätte er zweifellos mit einer herzzerreißenden Geschichte über die Hilfe für Not leidende Flüchtlinge aufgewartet, komplett mit Namen, Alter und ausgeschmückten Familiengeschichten. Wahrscheinlich hätten am Ende der General und Domas ihre Tränen getrocknet, ihn mit Gold und Lebensmitteln überhäuft und wieder auf den Weg geschickt. Diese Vorstellung belustigte sie derart, dass sie noch immer lächelte, als sie das Zelt erreichte.
Doch ihr Lächeln erlosch, als sie eine weinende Frau am Eingang sitzen sah. Es war Suviel. Erschreckt eilte Keren zu ihr, hockte sich neben die Magierin auf den Boden und sagte leise ihren Namen. Suviel hob den Kopf und zeigte Keren ihre vollkommen erschöpften Züge, die blutunterlaufenen Augen und ein Gesicht, dessen Blässe im Schein des Lagerfeuers beinahe weiß wirkte.
»Sie sterben, und ich kann sie nicht retten«, sagte sie heiser. »Einige wollen gar nicht mehr leben. Sie sind so krank und schwach und leer … Sie haben keine Hoffnung mehr.« Sie hustete. »Ich bin ausgelaugt, Keren, und vollkommen verbraucht. Raal hat mich hinausgeschickt, damit ich mich ausruhe.«
Keren wollte sie stützen, aber Suviel packte zitternd ihre Hand und starrte die Schwertkämpferin an. »Hör mir zu. Dieser Raal Haidar ist ein Zauberer. Er benutzt eine Magie, die ich noch nie gesehen habe. Zum Beispiel geisterhafte Netze und…«
»Du solltest ruhen und versuchen zu schlafen.«
Doch Suviel ließ sich nicht ablenken. »Er behauptet, aus einem Königreich weit westlich von Keremenchool zu stammen. Wenn wir ihn nur überreden könnten, sich uns anzuschließen! Ich habe ihn darum gebeten, aber er weigert sich … Ich muss jetzt wieder hineingehen und ihm helfen.« Sie versuchte aufzustehen, sank jedoch in die Knie und brach erneut in Tränen aus. Entsetzt und erschüttert führte Keren sie ans Feuer und drückte sie sanft zu Boden. Sie ignorierte Suviels Proteste, während sie die Magierin in Decken hüllte, von denen sie eine zusammenfaltete und als Kissen unter ihren Kopf schob. Kurz war Suviel fest eingeschlafen. Keren strich ihr sanft einige Strähnen ihres ergrauten Haares aus der Stirn, stand auf und wollte zum Zelt gehen. Überrascht blieb sie stehen, als sie nur wenige Schritte entfernt einen Mann in einer dunkelgrünen Robe vor dem Zelt sah. Er wischte sich methodisch einen seiner langen Finger nach dem anderen an einem blutdurchtränkten Tuch ab. »Seid Ihr …«, begann Keren.
»Ich bin Raal Haidar.« Seine Stimme klang tief, melodisch und befehlsgewohnt. »Du bist Keren Asherol, die Schwertkämpferin. Wo ist dein Gefährte, der Händler?«
Der Mann hatte ein hageres Gesicht, eine hohe Stirn, eine gewaltige, Scharfgeschnittene Nase und dunkle Augen, die sie eindringlich anblickten.
Keren zögerte. »Wir haben uns getrennt«, erklärte sie schließlich.
»Wie leichtsinnig. Heute Nacht lauern hier viele Gefahren.« Er drehte sich zum Zelt herum. »Komm … Ich benötige deine Hilfe.«
»Ihr benötigt…?« Keren verkniff sich die bissige Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, und folgte ihm ins
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