01 - Schatten der Könige
mutig. Du wärest wirklich eine wertvolle Ergänzung meiner Kompanie, Keren Asherol. Mein Angebot gilt nach wie vor, und du wirst es akzeptieren, wenn du nur ein wenig Klugheit walten lässt. Händige mir dein Schwert aus, und es wird dir nichts geschehen, das schwöre ich.«
Keren spie verächtlich aus. »Komm und hol's dir, Lakai!«
Der General verlor seine Fassung. »Ergreift sie!«, befahl er wütend seinen Männern. Doch bevor sie sich rühren konnten, ertönte eine Stimme hinter Keren.
»Halt! Es wird keinen Kampf geben!«
Raal Haidar war an ihre rechte Seite getreten. Seine Hände hatte er, verdeckt von den weiten Ärmeln seiner Robe, vor der Brust gefaltet.
»Wenn Ihr keine Waffe habt, haltet Euch lieber hier heraus«, murmelte Keren.
Der Großgewachsene Mann ignorierte sie und wandte sich an den General. »Ihr habt einen schwerwiegenden Fehler gemacht, denn Ihr werdet Euer Kopfgeld wohl zurückgeben müssen.« Der General zog sein eigenes Schwert. Es war ein schlichtes Breitschwert mit einem abgeschabten Korbgriff. »Und warum sollte ich das tun müssen?«
»Weil du nichts hast, was du liefern könntest, du Narr.« Haidar löste die Hände und hob die Rechte in die Luft. Er streckte den Zeigefinger aus und drückte die Spitze seines Daumens gegen die Kuppe. So hielt er einen Moment reglos inne und starrte den General an. Der Mann schien unter diesem Blick etwas zu schrumpfen. »Viel Glück bei deiner Reise!«
Dann stieß er ein einziges, vielsilbiges Wort hervor, und die Welt veränderte sich.
Das Wort hallte durch Kerens ganzen Körper. Ihr lief ein Schauer über die Haut, und die Luft in ihren Lungen summte, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Sie presste einen Arm auf ihre Brust, während der andere unter dem ehernen Klang ihres Schwertes zitterte. Sie hielt es zwar fest, aber irgendwie löste es sich dennoch aus ihrer Faust. Sie fühlte, wie sich die Haare auf ihrer Kopfhaut aufrichteten und ihre Augen aus den Höhlen traten. Als das Wort endete und schließlich verklang, richtete Keren sich wieder auf und sah sich um.
Der General, Domas und die anderen Männer waren zwar noch sichtbar, doch sie wirkten wie vor Entsetzen gelähmte Gespenster, die suchend in und um das Zelt herum liefen. Das nächtliche Dunkel war verschwunden und einem alles durchdringenden weißen Strahlen gewichen, das alle Farbe aus den Dingen der Umgebung verblassen ließ - das Zelt, die Bäume, das Gras, ja, selbst die flackernden Flammen des Lagerfeuers. Keren nahm ihre Umgebung nur noch in unterschiedlichen Schattierungen von kristallinem Weiß und Grau wahr, alles, bis auf ihre Gefährten.
Suviel stolperte zu Raal Haidar. »Was habt Ihr getan?«, erkundigte sie sich verblüfft. »Wo befinden wir uns?«
Haidar hielt seine Hand noch immer erhoben und sah sich einen Augenblick prüfend um, bevor er antwortete. »Dieser Ort ist den geheimen Lehren meiner Meister als Kekrahan bekannt. Es ist eine von mehreren Geisterdomänen, welche sich mit unserer eigenen Existenzebene überschneiden.« »Wir nennen sie die Reiche«, erwiderte Suviel.
Haidar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob wir von denselben Orten sprechen. So wie ich es verstehe, sind diese Reiche eigenständige Ebenen mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Dies hier«, er deutete um sich, »ist nur eine Halbwelt.«
»Und wie lange könnt Ihr uns hier festhalten?«, wollte Keren ungeduldig wissen.
»Nicht unbegrenzt, also wäre es klug, wenn wir uns aufmachen, deinen anderen Reisegefährten zu suchen, der, wie ich glaube, eure Pferde auf der obersten Ebene bewacht.«
»Woher wisst Ihr das?« Keren hatte ihm nicht gesagt, wo Gilly war.
»Als wir die Kranken behandelten, sind deine Gedanken häufig zu diesem Mann zurückgekehrt, diesem Gilly. Mein Volk ist sehr empfänglich für Gedankenströme, und bei dir war es fast, als hättest du leise vor dich hingemurmelt.«
»Gehen wir?«, unterbrach Suviel ihn. »Mir verlangt nicht gerade danach, wieder in die Hände unserer Häscher zu fallen.«
Gemeinsam marschierten sie zwischen den Bäumen hindurch zu dem Pfad, der den Berg hinaufführte. Es war, als gingen sie selbst als geisterhafte Erscheinungen umher, gleichzeitig in und außerhalb der Welt. Obwohl es mitten in der Nacht war, schliefen viele der Flüchtlinge noch nicht. Sie kauerten sich um ihre Feuer oder drückten sich auf heimlichen Botengängen zwischen den Zelten und Hütten herum. Doch niemand schien Anstoß an Keren und den anderen zu nehmen.
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