01 - Schatten der Könige
Gedankengesänge der Niederen Macht miteinander verknüpfte. Sein Kopf schmerzte schon von der Anstrengung, die Gesänge des Sehens, des Schleiers, des Zwanges und der Verlockung gleichzeitig aufrecht zu erhalten, ihre Macht auszubalancieren und sie auf denselben Punkt zu richten.
An diesem Punkt umhüllte Dunkelheit das Licht, Rot gebar Schwarz, weiß wurde zu Silber, dann zu Blattgrün, zu funkelndem Blau und formte schließlich perfekte, kreisrunde Wellen mit öligem Glanz. Bardow flüsterte die Silbe, welche den Beginn und das Ende seines fünften Gedankengesangs zusammenfügte, den der Bindung. Undurchsichtige Bänder wickelten sich um den solcherart komponierten Gesang und fesselten ihn.
Der Magier seufzte erleichtert und sank auf seinem Stuhl zusammen. Während die Gedankengesänge allmählich in seinem Geist schwanden, ein schwächer werdendes Narrenfest aus Klängen und Essenz und Gefühlen, wischte er sich mit zitternden Fingern über das Gesicht und rieb sich den brennenden Schmerz aus den Augen. Lange Zeit vor dem Einfall der Mogaun hatte er an einer Konklave teilgenommen, auf welcher der Erzmagier Argatil eben diese Aufgabe gemeistert hatte. Sie hatte ihn nur wenige Momente gekostet und ihn nicht im Geringsten ermüdet. Doch Argatil war mit dem Kaiser vor Arengia gefallen, die Macht der Wurzel war zerstört, untergegangen, und nun blieben nur die gröberen Methoden der Niederen Macht, um das Unmögliche zu erreichen.
Stöcke und Lehm, um dem Sturm zu widerstehen, dachte er. Selbst das Kristallauge mochte nicht genug sein.
Der Zauber schwebte immer noch über seinem Tisch. Nunmehr jedoch schien er nur noch eine kleine, blasse Kugel zu sein, deren Oberfläche von winzigen dunklen Wolken getrübt wurde, die willkürlich darüber trieben. Fürs erste war der Bann stabil, doch die einander widerstrebenden Formeln, die Bardow zusammengefügt hatte, würden nach einer Weile anfangen zu oszillieren. Dann galt es, diese Kräfte miteinander zum Klingen zu bringen. Auf diese Weise würde er sein Ziel erreichen. Der Magier stützte sich auf die Armlehnen seines Lehnstuhls und stand auf. Seine Beine fühlten sich schwach an, und er taumelte zur Seite. Er lachte leise auf, wartete einen winzigen Moment, bis er sicher stand, und zog dann ein Zunderrad unter einem Stapel Pergament hervor. Er entzündete eine Talglampe und trat vorsichtig ans Fenster. Eine dicke graue Decke hing auf einem Querbalken an einem Pfahl wie ein Banner vor den Läden, und als er sie zur Seite schob, durchschnitt ein Strahl von grellem Sonnenlicht die Dämmerung und ließ den Staub der Wolldecke im Licht funkeln. Bardow klappte die inneren Läden zurück, stieß die äußeren auf und stützte sich mit den Handflächen auf die von der Sonne erwärmten Steine des Fenstersimses.
Krusivel badete in dem hellen Licht der Nachmittagssonne, die dem grauen Herbst einen unverhofften Glanz verlieh. Vom Turm aus sah Bardow, wie die Menschen diesen noch warmen Tag nutzten. Wäsche wurde aufgehängt, Dächer wurden repariert, eine Erweiterung der Kasernen befand sich im Bau, und auf den oberen Weiden tummelten sich Pferde, die von den Pferdeknechten und einigen Rittern beaufsichtigt wurden. Er atmete tief ein, roch das Gras und einen Hauch von Holzfeuer und versank plötzlich in Erinnerungen …
Darin beugte er sich ebenfalls aus einem hohen Fenster, während die Sonne sein Gesicht liebkoste, und die kalte Bergluft scharf in seinen Lungen brannte. Erblickte auf eine schmale, gewundene Straße, die sich durch ein Dorf schlängelte, vorbei an den Vorlesungssälen, den Gast- und Wirtshäusern. Schmale Gassen führten zu Tavernen und Buden, die Kräuter oder Kuriositäten feilboten, zu Schneidern, Blumenverkäufern, Wahrsagerbuden, einer Bäckerei, deren Spezialitäten in alle großen Städte geliefert wurden, und zu einem merkwürdigen kleinen Laden, der sich auf die Kletterei und die dazu benötigte Ausrüstung spezialisiert hatte.
Erblickte hinauf zu den Grünschwingen, die in großen Scharen über den Himmel flogen, oft genug auf der Flucht vor einem räuberischen Kronfalken …
Bardow schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung auszukosten. Es war jetzt fünfzig Jahre her, und er konnte sich immer noch an seine ersten Tage in Trevada erinnern. Das letzte Mal hatte er die Stadt ein Jahr vor der Invasion besucht. Seitdem hatte er nur mehr Gerüchte und Berichte aus zweiter oder gar dritter Hand von den schrecklichen Verwüstungen und dem Gemetzel
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