01 - Schatten der Könige
nicht mehr weiter aus. Sie war jetzt ungefähr so groß wie sein Kopf. Ihre Oberfläche bestand aus einem schimmernden, spiegelnden Mosaik, und er sah die tausendfachen Reflexionen seines eigenen Gesichts, bevor die Myriaden Facetten sich vollkommen schwarz verfärbten.
Endlich war es vollbracht. Während Bardow den Gesang der Bindung fortführte, stimmte er gleichzeitig den Gedankengesang des Geflügelten Geistes an. Er konzentrierte sich stärker, und richtete sein ganzes Wesen auf einen imaginären Punkt auf der Oberfläche der Kugel. Der Raum schien sich aufzulösen, während sich der Geflügelte Geist in seinen Sinnen ausbreitete. Alles um ihn her schien in der schwarzen Kugel zu verschmelzen, und plötzlich wurde Bardow selbst in seine Grabesschwärze gesogen. Er stürzte durch einen endlosen, nächtlichen Strom. Im Zwischenreich, der Leere, herrschte eisige Kälte, eine Kälte, die das Bewusstsein umschlang und den Willen lähmte. Bardow widerstand ihr, indem er Kraft aus der Wärme seiner Erinnerungen zog.
Tauric, dachte er, mitten im Rausch des Fluges, und versuchte, sich auf jenen Gedanken zu konzentrieren. Ich möchte Tauric sehen.
Der Geflügelte Geist wirbelte umher und stürzte sich dann plötzlich hinab. Die Dunkelheit hellte sich zu einem bedrohlichen Grau auf. Bardow tauchte durch einen sturmgepeitschten Himmel, durch dahinströmende Wolken und Schleier aus Nebel und Regen. Die Wolken teilten sich, und vor ihm erstreckte sich eine lange, bewaldete Bergkette, die in dem Regen schemenhaft und verschwommen wirkte. Nach einem Moment jedoch erkannte er das Bachruz-Gebirge, das sich bis zum Großen Tal von Gronanvel in der Nähe von Sejeend in Roharka erstreckte. Dann schwenkte der Geflügelte Geist nach rechts, trug ihn über die höchsten Gipfel verschiedener Berge und wandte sich dann nach Süden, den endlosen Forsten von Falador entgegen.
Langsam senkte er sich über die Baumwipfel, die sich am Südende des Forstes befanden. Der Wald reichte bis an die Ufer des Ornim-Sees. Der Geflügelte Geist trug ihn weiter hinab, in das Meer aus Laub hinein, und glitt elegant zwischen den Bäumen hindurch. Regentropfen prasselten von oben auf ihn herab, aber Bardow fühlte und hörte nichts. Er empfand nur eine kraftvolle Ruhe und war vollkommen erfüllt von dem Ziel seiner Suche.
Fackelschein und das Flackern eines Lagerfeuers durchdrangen die Dämmerung. Dann erkannte er die Umrisse eines Zeltes auf einer Lichtung, angebundene Pferde, die ruhig grasten, und Gestalten von Männern, die um das Feuer saßen. Er kam näher, schwebte unter den Zweigen und über dem Dickicht hinweg, bis sein Blick auf Tauric fiel. Der Junge saß etwas abseits, und ihm gegenüber hockte Kodel. Mit seinem gesunden Arm fing der Junge Steine auf, die Kodel ihm zuwarf. Sie segelten mit Wucht von rechts oder links auf ihn zu, hoch oder niedrig, und flogen schnell und immer schneller, bis Tauric schließlich einen verfehlte und auflachte. Kodel stimmte in sein Lachen ein, hielt dann jedoch inne, legte den Kopfschief, als lausche er einer inneren Stimme, und musterte die Bäume neben Bardows Standort. Der Erzmagier lächelte. Tauric mochte vielleicht nicht über das magische Potenzial seiner kaiserlichen Vorfahren verfügen, Kodel jedoch schien durchaus gewisse Fähigkeiten in dieser Hinsicht zu besitzen.
Als ob er bemerkt habe, dass er entdeckt worden war, zog sich der Geflügelte Geist von der Lichtung zurück. Bardow fiel plötzlich auf, dass es kein Zeichen von Himber oder Pirica gegeben hatte, oder von Coireg, dem Bruder des Lordkommandeurs. Dagegen trugen einige von Kodels Männern Bandagen um Kopf und Gliedmaßen. Hatte es einen Kampf oder einen Hinterhalt gegeben? Er stellte sich Himbers Gesicht vor, und als nichts passierte, versuchte er dasselbe bei Pirica. Doch der Geflügelte Geist rührte sich nicht. Das konnte nur eines bedeuten: Beide Ratgeber waren tot. Dann dachte er an Coireg, und sofort verschwamm sein Blick auf die Lichtung in einem Gewirr aus Blättern und Rauch und Lagerfeuerflammen. Als sein Blick sich wieder klärte, fand sich Bardow in einem Zelt wieder, auf das er von der obersten Spitze einer Stange hinabsah. Coireg Mazaret lag schlafend auf einer groben Pritsche. Seine Hände und Füße waren mit Tauen gebunden, und sein Gesicht zerschrammt und zerkratzt. Das beunruhigte Bardow, und er fragte sich, was Ikarnos Bruder getan hatte, um eine solche Behandlung zu verdienen.
Wenigstens ist Tauric unversehrt, dachte
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