01 - Schatten der Könige
weitergeritten. Jetzt war Mazarets Laune ebenso grimmig wie das Wetter. Was sollte er tun, wenn er den Spross des Hauses Tor-Cavarill fand? Sollte er ihn als Geisel nehmen, und damit nicht nur seine Sicherheit und sein Wohlergehen riskieren, sondern auch Volyns Bereitschaft, nachzugeben? Wäre es nicht besser, den Jungen heimlich zu entführen und ihn dann zu töten?
Er schüttelte sich. Bis jetzt waren seine Pläne und Absichten immer klar und geradeheraus gewesen. Seine Feinde waren die wilden Mogaun und ihre Bundesgenossen, seine eigene Taktik einfach und direkt.
Doch die missliche Lage bürdete ihm eine Wahl aus zwei verabscheuungswürdigen Manövern auf, und ließ die Welt zu einem dunklen, engen Pfad schrumpfen.
Ich weiß es nicht!,
hätte er gern gerufen.
Ich weiß nicht, was ich tun soll!
Als er überlegte, was Suviel wohl gesagt hätte, konnte er sie fast vor seinem inneren Auge sehen und hören, wie sie sagte:
Du kannst nicht… Du darfst nicht…
Er murmelte ein Gebet an die Erden Mutter und ritt weiter, angetrieben von dem eisigen Wind in seinem Rücken.
Kurz nach Mittag hatte er die Hügelkette von Oungal überquert und ritt auf die Ufer des Audagal zu. Dieses Land hatte saftige Weiden und Wiesen, und er wich sorgfältig Dörfern und Siedlungen aus. Bevor er Krusivel verließ, hatte er seine polierte Rüstung gegen einen Lederharnisch und die schäbige Ausrüstung eines heruntergekommenen Söldners eingetauscht. Er hoffte nur, dass er diese Verkleidung niemals wirklich brauchen würde.
Am frühen Nachmittag suchte er Schutz in einem Wäldchen voller nistender Klapperschnäbel, während der Wind die Wipfel der Bäume über ihm hin- und herschwenkte, und der prasselnde Regen das hohe Gras um ihn herum niederdrückte.
Nachdem er kurz ausgeruht hatte, bestieg er den Grauen und machte sich wieder auf den Weg. Bedauerlicherweise gestaltete sich das Fortkommen um den See herum schwierig, weil er ständig ausweichen oder sich in aller Eile verbergen musste, wenn er berittenen Mogaun-Patrouillen begegnete, deren Pferde ebenso barbarisch geschmückt waren wie die Reiter selbst. Ihre Banner und Schilde trugen das Symbol eines Hundes, der seine Lefzen fletschte. Es gehörte zu Begrajic, dem Mogaun-Häuptling, der diesen Teil von Kejana kontrollierte. Seine Krieger hatten wiederholt versucht, bis nach Krusivel vorzudringen, waren jedoch in den tiefen Schluchten des Bachruz-Gebirges gescheitert.
Schließlich verließ Mazaret die Straße und ritt stattdessen über die ausgefahrenen Karrenwege und grasbewachsenen Pfade, welche die Höfe und kleinen Weiler miteinander verbanden, die über die Hänge östlich des Sees verstreut waren. Die Sonne senkte sich bereits fast über den Horizont, als er aus einem Sumpf voll Klauenbusch und Schleppkraut herausritt und sich nicht weit von einer breiten, steinernen Brücke wieder fand, die einen vom Regen angeschwollenen Fluss überspannte, den Nolvik. Auf der anderen Flussseite tauchten im Zwielicht unter den unablässigen Regenschleiern die grauen Umrisse von Oumetra auf, und dahinter schimmerte die dunkle Fläche des Meeres.
Die Küstenstraße und eine Abzweigung des Roten Weges trafen hier aufeinander, und einige Reisende, meist zu Fuß, sputeten sich, um noch vor Einbruch der Dunkelheit die sicheren Stadtmauern zu erreichen. Mazaret trieb sein Pferd von der schlammigen Senke zur Brücke, ritt im langsamen Schritt hinüber und galoppierte dann zu den Stadttoren.
Als er näher kam, musterte er die äußere Mauer und bemerkte, dass seit seinem letzten Besuch vor sechs Jahren einige Teile der Befestigungen verstärkt und erhöht worden waren. Dann sah er eine Gruppe von Menschen neben den geschwungenen Toren stehen, von denen einige Fackeln in der Hand hielten. Als er weiterritt, trat einer von ihnen zur Seite, stützte sich gegen die Stadtmauer und übergab sich. Ein anderer in einem langen Mantel und Hut eilte ihm nach, während die Posten am Tor schallend lachten und den Unseligen feixend nachahmten. Mazaret schnitt eine verächtliche Grimasse und zügelte sein Pferd, sodass er über die Köpfe der Schaulustigen hinwegsehen konnte. Neben der Mauer war ein unbehauener Pfahl in den Boden gerammt worden, an den die Leiche eines Mogaun gebunden war. An den fünf Ringen, die auf einer Wange neben dem Kieferknochen durch die Haut gebohrt worden waren, erkannte Mazaret, dass dies einer der Unterführer von Begrajic sein musste, vielleicht sogar einer seiner eigenen Söhne.
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