01-Unsterblich wie die Nacht-redigiert-25.10.12
geworden, wenn sie nicht die Fähigkeit gehabt hätte, anderer Leute Gedanken hören zu können? Wäre sie weniger eigenwillig? Würde sie sich weniger in Bücher vergraben und sich mehr in die Gesellschaft einfügen? Wäre sie vielleicht schon verheiratet … wäre sie mehr wie Lady Dewberry, kühl und gesittet?
»Deine Eltern sind zwar schon lange tot, aber ich weiß, wie schwer es für euch war, für dich und Mikhail. Ich habe bei eurer Erziehung geholfen, soweit es mir möglich war, aber nun mache ich mir ernsthaft Sorgen um dich, Angelica, weil du so gar kein Interesse am Heiraten zeigst. Und die Heirat ist nun mal das Wichtigste im Leben einer Frau.
Was glaubst du denn, warum ich mir solche Mühe gebe, dich in die Gesellschaft einzuführen, dich anständigen, ledigen Männern mit gutem Ruf vorzustellen? Aber du, meine Liebe, scheinst von der Aussicht zu heiraten nicht gerade begeistert zu sein. Und das macht meine Aufgabe so schwierig, so schwierig!
Obwohl deine Mutter sich mit dem Heiraten auch reichlich Zeit gelassen hat …«
»Ach ja?« Angelica richtete sich jäh auf. Sie hatte ihre Tante schon so oft nach ihrer Mutter gefragt, doch diese hatte nie wirklich über ihre verstorbene Schwester reden wollen. Dass sie es jetzt auf einmal tat und ihr noch dazu solche Details erzählte, elektrisierte Angelica.
»Ja«, nickte Lady Dewberry, »aber sie hatte, im Gegensatz zu dir, gute Gründe dafür. Es war letztlich ein Missverständnis, ein bedauerliches Missverständnis. Unser Vater, dein Großvater, hatte sich mit seinem Bruder, deinem Großonkel Robert, überworfen. Dein Großvater weigerte sich, auch nur ein Wort mit ihm zu sprechen. Und in einem Augenblick äußerster Dummheit hat Robert deine Mutter entführt und auf sein Anwesen in Schottland verschleppt.«
Angelica versuchte sich ihre Mutter vorzustellen, wie sie verängstigt in einer abgedunkelten Kutsche saß und in die Highlands verschleppt wurde, aber es gelang ihr nicht. Warum erfuhr sie das erst jetzt? Warum hatte ihre Tante ihr das nicht schon früher erzählt?
Lady Dewberrys Miene hatte einen entrückten Ausdruck angenommen. »Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, ist auch noch der Bote spurlos verschwunden, der die Nachricht über deinen Aufenthaltsort an deinen Vater hätte überbringen sollen. Robert hat zwar danach noch ein, zwei Boten geschickt, aber er konnte ja nicht wissen, dass dein Großvater inzwischen auf dem Weg nach Boston in den Vereinigten Staaten war. Er hatte nämlich einen farbenblinden, idiotischen Detektiv engagiert, der behauptete, deine Mutter an Bord der ›Elisabeth‹ gesehen zu haben.«
»O Gott! Wie lange hat Großvater gebraucht, um sie zu finden?«
»Fast zwei Jahre.«
»Zwei Jahre!« Angelica konnte es kaum fassen. Ihre Mutter hatte zwei Jahre bei ihrem Großonkel Robert gelebt und darauf gewartet, dass ihr Vater sie abholte? Was hatte sie empfunden? Was hatte sie die ganze Zeit getan?
»Ja, zwei lange Jahre. Du siehst also, es war nicht die Schuld deiner Mutter, dass sie erst so spät geheiratet hat. Tatsächlich hat sie deinen Vater kurz nach ihrer Rückkehr nach London kennen gelernt und innerhalb von einem Monat geheiratet.«
Das fand Angelica zwar ein wenig überstürzt, aber ihre Mutter hatte sicher ihre Gründe gehabt. Außerdem war ihr Vater der charmanteste, netteste, attraktivste, mutigste, klügste und anständigste Mann gewesen, den sie kannte. Welche Frau hätte sich nicht Hals über Kopf in ihn verliebt und ihn geheiratet?
»Du brauchst einen Ehemann, meine Liebe, jemanden, der sich um dich kümmert und von dem du Kinder bekommst.«
Lady Dewberry betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Du willst doch Kinder haben, oder?«
»Natürlich.«
Angelica wollte sogar sehnlichst ein Kind, aber das hatte sie noch keiner Menschenseele anvertraut.
»Ah, gut.« Lady Dewberry nickte zufrieden. »Und da ich deine Leidenschaft für Zitate kenne, meine Liebe, werde ich dir jetzt selbst eins nennen: ›Dein Ehemann ist dein Herr, ist dein Erhalter, dein Licht, dein Haupt, dein Fürst …‹« Sie hielt inne, weil ihr der Rest der berühmten Zeilen aus Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung entfallen war.
Angelica wartete einen Moment, dann ergänzte sie sanft: »Er sorgt für dich und deinen Unterhalt, gibt seinen Leib mühsel’ger Arbeit preis, zu Land und Meer.«
»Ja, genau.« Lady Dewberry lächelte. »Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass du in Zukunft ein wenig mehr auf meinen Rat,
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