01 - Wie Feuer im Blut
Mit einem erwartungsvollen
Lächeln ging sie auf Damien zu und nahm seine Hand. »Ich weiß, dass du jede
Hoffnung aufgegeben hast. Ich weiß, wie qualvoll die letzten Wochen für dich
waren. Mir ging es nicht anders als dir.«
Damien
wandte sich wortlos ab.
»Und
wenn Miles die Wahrheit sagt?« fragte sie.
»Er
könnte sich getäuscht haben.«
»Wir
sollten die Gegend um die Regent Street trotzdem absuchen.«
Damien
dachte über Kates Vorschlag nach und versuchte den Hoffnungsfunken zu ignorieren,
der in seinem Herzen, aufglomm. Er holte zitternd Luft. »Lass anspannen«, sagte
er.
Keine Stunde später
waren sie in der Regent Street. Ein kalter Regen strömte vom Himmel, und er
wurde von einem so dicken grauen Nebel begleitet, dass Damien und Kate nicht
viel sehen konnten, als sich ihre Kutsche im Schneckentempo im Verkehrsstrom
bewegte. Das Wetter hatte aber offenbar auch etwas Gutes für sie: Der Regen und
der Nebel hatten alle Passanten bis auf die Bettler und Straßenkehrer in die
Häuser getrieben.
Blasse
Gesichter betrachteten Damiens Kutsche sehnsüchtig, als sie die Straßen auf-
und abfuhr. Menschen kauerten in den Torwegen und unter vorspringenden Dächern,
wo sich die Obdachlosen auf eine kalte, nasse und schlaflose Nacht
vorbereiteten. Ihre tief in den Höhlen liegenden Augen starrten Damien fragend
an, als er dem Kutscher befahl, langsamer zu fahren, damit er jedes Gesicht
studieren konnte. Er entdeckte sie nicht und klopfte an das Dach der Kutsche.
Die Pferde setzten sich in Trab.
Damien
schloss die Augen. »Das ist sinnlos. Ein kleines Mädchen in dieser riesigen
Stadt finden zu wollen, ist genauso, als würde man eine Stecknadel in einem
Heuhaufen suchen. Nach den vielen Wochen, die wir vergeblich nach ihr geforscht
haben, hätte ich es eigentlich besser wissen müssen.«
»Wir
werden die Hoffnung niemals aufgeben«, sagte Kate leise.
»Wenn
ich nur meine letzten Worte zu ihr zurücknehmen könnte ... «
»Aber
das kannst du nicht, und es hat keinen Sinn, dass du dir ständig Vorwürfe
machst. Du hättest das niemals gesagt, wenn du nicht halbtot gewesen wärst vor
Schmerzen.«
Die
Kutsche rollte weiter, bewegte sich nun durch das Arbeiterviertel, wo Punkt
sechs Uhr die Pfeifen ertönten und das Ende der Arbeit für viele verkündeten.
Türen wurden aufgestoßen und entließen lärmende Scharen von Männern, Frauen und
Kindern in schmutzigen,
abgerissenen Kleidern ins Freie.
Damien
befahl dem Kutscher: »Bringen Sie uns weg von hier!« Er preßte die Handballen
gegen die Augen und versuchte sich von den Bildern dieses Elends zu befreien.
Aber das gelang ihm nicht. Der Gedanke, dass Bonnie ...
»Anhalten«,
rief Kate und starrte wie gebannt aus dem Fenster.
»Halt
die Kutsche an«, wiederholte Kate leise.
Damien
klopfte gegen das Dach, und der Kutscher rief: »Brrr!«
Kate
griff nach Damiens Hand und hauchte atemlos: »Ich glaube, dort ist Bonnie.«
Das
Mädchen stand mit dem Rücken zur Straße, den Kopf zwischen die schmalen
Schultern gezogen, als könnte es sich so gegen den Regen und die Kälte
schützen. Das schwarze Haar hing strähnig und glanzlos bis zu den Hüften. Das
Kleid war zerlumpt.
Selbst
aus dieser Entfernung konnte man sehen, dass das Mädchen zitterte. Das Mädchen
hob eine bebende Hand und stützte sich gegen das Schaufenster. Damien las den
Namen auf dem Ladenschild »Madame Rousseau, Modesalon.« Dann sah er auch die
in allen Regenbogenfarben schillernden Bänder, die auf einem Tisch ausgelegt
waren.
Damien
öffnete den Wagenschlag und stieg aus. Er ging vorsichtig näher und versuchte
das Spiegelbild des Mädchens im Schaufenster zu erkennen. Er hielt wieder an,
weil er fürchtete, seine Schritte könnten das Mädchen erschrecken und
verjagen.
»Bonnie.«
Ganz
langsam drehte sie sich um, und Damien stockte der Atem. Sie eine Seite ihres
Gesichtes war blauschwarz und geschwollen; die andere hager mit einem
purpurroten Ring unter dem Auge. Sie sah ihn an wie ein angeschossenes Reh,
das sich seinem Jäger gegenübersieht. Dann formten ihre Lippen ein lautloses
Oh, und noch ehe Damien einen Schritt näher kommen konnte, sank sie aufs
Pflaster.
Er riss
das Cape von seinen Schultern, ließ sich neben ihr auf die Knie nieder und tat
sein Bestes, sie in das pelzgefütterte Kleidungsstück zu wickeln. »Meine
geliebte Bonnie«, flüsterte er, »kannst du mich hören?«
Ihre
Lider zuckten und ihre Lippen bewegten sich. Er beugte sich näher zu ihrem Mund
und
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