010 - Die Bestie mit den Bluthänden
Kontrolle, keine Portiersloge, wo man sich erst anmelden musste. Hier
konnte man sich frei bewegen.
Der Kies knirschte unter den Schritten des jungen Franzosen, als er auf das
Haupthaus zuging und durch die weit offenstehende Doppeltür den Korridor
betrat.
Armand Dupont war nie zuvor hier gewesen. Er wusste nicht, in welchem Trakt
Mireille Feydeau untergebracht war und wo sie sich aufhielt. Nur eines konnte
er als sicher voraussetzen: Die Fabrikantenfrau würde auf alle Fälle anwesend
sein.
In den letzten Telefongesprächen, die Jean-Claude Feydeau mit dem
Psychologen geführt hatte, war eindeutig zum Ausdruck gekommen, dass für Madame
Feydeau zunächst mal höchste Abgeschiedenheit notwendig war. Vielleicht könnte
man heute oder morgen dann dazu übergehen, dass sie einen kleinen Spaziergang
unternahm. Doch dies wollte er ganz der Situation überlassen. Der Wunsch musste
von Madame selbst kommen.
Ihre Überlastung war zu offensichtlich, und sie hatte auch nach ihrer
Ankunft hier den Wunsch geäußert, soviel wie möglich zu schlafen und die Zeit
allein zu verbringen.
Dies wäre das genaue Gegenteil ihres Lebens in Lyon. Da waren die Tage
ausgefüllt mit Besuchen, Gesprächen, Empfängen. Da hatte sie nicht eine einzige
Minute für sich Zeit. Ihr Mann schleppte ständig neue Besucher ins Haus, die es
zu bewirten hieß, mit denen man sprechen und zu denen man freundlich sein
musste, auch wenn einem der Kopf nicht danach stand.
Armand Dupont ging durch den Korridor. Am Ende des Ganges befand sich ein
großes, modernes Fenster mit Blick auf den bewaldeten Hügel.
Aus der ersten Etage kam eine Schwester, jung, schlank und attraktiv.
Sie lächelte den Besucher an. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Monsieur?«
Nicole Forcier hob die hübschen Augenbrauen. Sie kannte den fremden Besucher
nicht. Er war noch nie hier gewesen. »Suchen Sie jemand?«
»Ja, Madame Feydeau«, sagte Armand Dupont und lächelte ebenfalls.
Nicoles hübsches Gesicht wurde eine Nuance dunkler. »Sind Sie verwandt mit
ihr?« fragte sie und kam näher. Ihre aufregende Figur zeichnete sich unter der
reizvollen Kleidung, die sie trug, vorteilhaft ab.
»Ich bin ein guter Freund.«
»Aha. Das ist natürlich schwierig«
»Was ist schwierig, Mademoiselle?«
»Madame Feydeau schläft noch.«
»Oh, das ist schade.« Auf Armand Duponts Gesicht war die ganze Enttäuschung
sichtbar, die er zu zeigen vermochte. Und er schauspielerte gut. Das war seine
Stärke. »Sie hätte sich sicher sehr gefreut. Für mich hatte Madame Feydeau
immer Zeit. Wie geht es ihr, Schwester?«
Sie schüttelte den Kopf und lächelte charmant. »Ich bin nicht direkt
Schwester hier. Das mache ich so nebenbei. In erster Linie bin ich Dr. Sandos'
Sekretärin. Aber hier im Haus kommt es leicht vor, dass sich die Aufgabenbereiche
überschneiden. Wir sind hier wie eine große Familie. Jeder springt da ein, wo
es notwendig ist. Ich glaube, das ist ganz gut so.« Nicole Forcier stand jetzt
dicht vor dem jungen Mann mit den weichen Gesichtszügen. Provozierend blickte
sie ihn an. »Aber ich könnte mal nachsehen. Vorhin hat sie noch geschlafen. In
der Zwischenzeit kann sie wachgeworden sein. Wie es Madame Feydeau geht,
wollten Sie wissen. Da müssen Sie mit Dr. Sandos reden, er kann Ihnen bessere
Auskünfte geben als ich. Ihr Zustand hat sich noch nicht merklich gebessert.«
»Oh, das ist schlimm«, seufzte Armand. »Sie hatte so sehr gehofft, dass sie
hier in der Ruhe und der Abgeschiedenheit wieder zu sich selbst finden würde.«
»Das wäre ihr vielleicht auch gelungen. Nach den ersten Tiefschlaftherapien
trat eine merkliche Erholung ein. Aber dann kam der Brief.«
Sie deutete nur an, aber er gab sofort zu erkennen, dass er ahne, woher der
Brief gekommen war.
»Von ihrem Mann, nicht wahr?« wisperte er.
»Ja.« Die Blondine nickte.
»Ich hab's geahnt. Und das ist gar nicht gut! Es wäre besser, wenn sich
Monsieur Feydeau in diesem Stadium mit seinen Äußerungen zurückhalten würde. Er
hat eine merkwürdige Art, die Dinge zu sehen, und er nimmt die Krankheit von
Madame nicht ernst. Und ich glaube, sie ist sehr ernst.«
In dieser Richtung plätscherte das Gespräch dahin, während sie den langen
Korridor hinuntergingen.
Vor der zweiten Tür rechts blieb Nicole Forcier stehen. Sie wies auf Tisch
und Stühle in einer gemütlich eingerichteten Nische und bat Armand Dupont, sich
einen Moment zu gedulden. Danach ging sie in das Zimmer. Armand Dupont konnte
noch einen Blick
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