010 - Die Bestie mit den Bluthänden
der Luft, das er
körperlich zu spüren glaubte, ohne es näher definieren zu können.
Er schluckte und fasste sich unwillkürlich an die Gurgel. Es war eine
dieser Nächte, die jenen glichen, in denen die furchtbaren Verbrechen begangen
worden waren. Sandos zog die Tür hinter sich zu. Den Schlüssel ließ er von
innen stecken. Langsam löste sich seine Hand von der Klinke.
Wie ein Schatten huschte er durch die parkähnliche Anlage. Seine Augen
nahmen die scharfen Umrisse des Hauses und des Wirtschaftstraktes wahr. Im
ersten Stock, wo die Schwestern, die Köchin und Nicole untergebracht waren,
brannte hinter einem der zugezogenen Fenster noch schwaches rötliches Licht,
das kaum das dichte Gewebe des tabakbraunen Vorhangs zu durchdringen vermochte.
Es war das Zimmer von Nicole. Im Kernschatten des Hauses schlich er gebückt auf
die mit Sträuchern bewachsene Umzäunung des Grundstückes zu. Er verursachte
nicht das geringste Geräusch, weil er wusste, dass eine der Schwestern
Nachtdienst hatte, und er musste an dem Fenster des Schwesternzimmers vorbei.
Geduckt huschte er darunter her und hörte, wie hinter dem nur angelehnten
Fenster leise Musik erklang. Schwester Rita hatte Nachtdienst. Er erkannte es
an den Chansons, die gespielt wurden. Rita hatte sich die Platten aus
Deutschland schicken lassen.
In der Nähe des Tisches, an dem sie saß, stand ein kleines
Instrumentenpult. Jeder Patient im Hause von Dr. Sandos wurde elektronisch
überwacht. Sobald auch nur einer erwachte, glühte ein Signallicht auf. Dadurch
wurde die wachhabende Schwester sofort und schnell informiert.
Sandos erreichte die hinterste Tür. Im Schutz der Dunkelheit verließ er den
Park. Seine Schritte knirschten auf dem sandigen, mit zahllosen Steinen
durchsetzten Boden.
Das Gesicht des Arztes war ernst und verschlossen, als er über die hügelige
Ackerfläche schritt, die weite, ausgedehnte Rasenfläche erreichte und
schließlich die ersten Ausläufer der Baumreihen vor sich sah. Er verschwand
hinter den dicken, schwarzen Stämmen.
Einmal nur verhielt er in der Bewegung, blieb lauschend stehen, blickte
sich aufmerksam um und kaute nervös auf seinen Lippen.
Er hatte das Gefühl, dass ihn unsichtbare Augen beobachteten. Irgendetwas,
irgendjemand war in seiner Nähe!
Da knackte vor ihm im Dunkel ein Zweig!
Sandos zuckte zusammen. »Ist da jemand?« fragte er rau und erschrak über
seine eigene Stimme. Unwillkürlich suchte er Schutz hinter dem nächststehenden
Baum, um sich vom Rücken her zu sichern, und ballte die Fäuste – bereit, einem
eventuellen Angreifer sofort wirksam entgegenzutreten.
Sein Herz schlug bis zum Hals, das Blut pulsierte heftig in seinen Adern,
und seine Haut fühlte sich heiß und klebrig an.
Nur mühsam konnte er der aufsteigenden Erregung Herr werden. Vor seinen
Augen begann es zu flimmern, die Dunkelheit schien sich mit einem Mal zu
verdichten und kam auf ihn zu. Es wurde ihm alles zu eng, und ein
Schwindelgefühl ergriff ihn. Vor seinen Augen stiegen seltsame Bilder auf.
Szenen, die er nur zu gut kannte. Er sah die blutüberströmten Gestalten, die
blutenden Hände der Priester vor den Altären, die ihn an Schlachtbänke
erinnerten, er fühlte die kalte, knochige Hand des Grauens in seinem Nacken.
Die Bilder glühten in den grellen Farben des Gemäldes, das Henri Blandeau,
der Privatgelehrte, in einem seiner Kellerräume gesondert untergebracht hatte.
Die Gestalten bewegten sich, rückten auf ihn zu und ergriffen von ihm Besitz.
War das der Beginn des Wahnsinns, eines Wahnsinns, der ihm prophezeit war
und den er erwartet hatte?
Die Luft wurde ihm knapp, sein Körper wurde siedendheiß, und dann drehte
sich alles vor ihm wie ein glühendes Karussell. Die Bäume stürzten auf ihn
herab, und der schwarze, wolkenbedeckte Himmel berührte ihn.
Lautlos stürzte Dr. Sandos zu Boden.
●
Fernand Rekon und sein Begleiter Projcest huschten gebückt durch das
Dunkel. Sie vermieden nach Möglichkeit jedes Geräusch.
Die Lippen des Kommissars waren ein schmaler, harter Strich in seinem
beherrschten, ernsten Gesicht. Sie hatten Dr. Sandos von seinem Grundstück
kommen sehen, und jetzt legten sie alles daran, den Psychotherapeuten nicht
wieder aus den Augen zu verlieren.
Warum verließ Sandos zu mitternächtlicher Stunde sein Haus, was veranlasste
ihn dazu?
Fernand Rekon hatte das Nachtglas um den Hals hängen, in der Rechten hielt
er die Taschenlampe, in der Linken die entsicherte Pistole. Er knipste
Weitere Kostenlose Bücher