010 - Die Bestie mit den Bluthänden
weiß gar nicht mehr, wie alles gekommen ist. Du musst es mir
erklären.«
»Natürlich! Der Alkohol! Du hast sehr viel getrunken, Nicole! Erst der Gin,
dann der Rotwein, der sehr schwer und sehr süß war.« Seine Stimme klang ruhig
und überzeugend. Sandos machte den Eindruck eines zufriedenen Mannes. Sein
Gesicht war nicht mehr so angespannt, er wirkte freundlicher, ausgeglichener.
Jedenfalls hatte Nicole diesen Eindruck.
Sie lächelte ihm zu und zog sich im Badezimmer an. Er sah ihr Schattenbild
auf der weißen Tür. Während er ihr eine erfundene Geschichte erzählte, die sie
sich lachend anhörte, musste er daran denken, dass alles wie am Schnürchen
geklappt hatte.
Sie ahnte nichts von den wirklichen Ereignissen der vergangenen Nacht. Sie
hatte sie vergessen, in der Hypnose, in die er sie versetzt hatte. Sie war
erwacht in dem Glauben, mit ihm eine Nacht durchzecht und durchliebt zu haben.
Und diese Interpretation kam ihrem innersten Gefühl auch entgegen. Sie fand
ihre Liebe erwidert.
Sandos erzählte seine Geschichte, wie sie sie hören wollte, und er
überlegte dabei bereits wieder, wann der günstigste Zeitpunkt sei, Nicole
erneut in Hypnose zu versetzen. Er musste ihr Unterbewusstsein erforschen,
musste sie besser kennen- und verstehen lernen, und er musste vor allen Dingen
herausfinden, was sie dazu veranlasst hatte, ihn anzufallen und zu würgen.
Der Anblick des Bildes brachte eine tödliche Gefahr mit sich, das wusste er
schon lange. Auch auf ihn übte das alte Gemälde eine bestimmte Wirkung aus, er
registrierte die Veränderung nur zu gut. Aber er konnte sich nicht erinnern,
dass der Anblick der schauerlichen Szenen ein unkontrolliertes Mordgefühl in
ihm geweckt hatte. Bei Nicole aber war das der Fall gewesen. Er wollte der
Sache auf den Grund gehen. Sie war für ihn – ungewollt – zu einem
Versuchsobjekt geworden. Wie waren ihre Reaktionen zustande gekommen? Wodurch
waren sie ausgelöst worden? War er dem Geheimnis des rätselhaften Bildes ein
wenig auf der Spur?
Waren es die Farben, waren es die Szenen, die bestimmte Assoziationen
weckten, durch die wiederum gewisse chemische Reaktionen im Körper des Betrachters
ausgelöst wurden? Chemische Reaktionen, die Stoffe erzeugten und die
Körpersäfte veränderten?
Es gab gerade in dieser Richtung sehr viele Versuche und Arbeiten großer
Kollegen. Man wusste heute, dass bestimmte Erlebnisse, dass sogar Farben, Töne
und Stimmungen chemische Reaktionen im Körper auslösten und das Denken und
Fühlen beeinflussten, indem man gereizter oder ruhiger wurde.
Sandos schrieb dem rätselhaften Bild eine solche Wirkung zu, wenn er auch
noch nicht wusste, auf welche Weise dies ausgelöst wurde und ob schon beim
Entstehen des Bildes eine solche Wirkung beabsichtigt gewesen war.
Blandeaus Berichten zufolge schien dies der Fall zu sein.
Blandeau hatte immer wieder von dem teuflischen
Bild gesprochen, auf dem ein geheimnisvoller Fluch aus der Vergangenheit
laste.
Aber es gab da noch etwas anderes – und Sandos musste sich bemühen, nicht
daran zu denken. Um dieses Bild gab es mehr als ein Geheimnis!
Sandos war mit seinen Gedanken ganz woanders, während er Nicole die
Ereignisse der Nacht erzählte, wie sie nicht abgelaufen waren. Er wurde
unterbrochen. Motorengeräusch näherte sich dem Haus. Sandos trat ans Fenster
und blickte auf den breiten Weg hinunter, der vor dem Haus entlang- und in den
Wald hineinführte. Auf diesem Pfad konnte man sich auch dem Anwesen des
Privatgelehrten Blandeau nähern.
Ein Taxi hielt vor dem Erholungsheim. Sandos erblickte im Fond des Wagens
eine zierliche, bleiche Person, mit langen, superblonden Haaren.
Kitty Dandrell!
»Sie ist da, Nicole!«
Er wandte sich ab und ging zur Tür. Die junge Französin kam mit noch
aufgeknöpfter Bluse aus dem Bad. Deutlich war der Ansatz ihrer Brüste zu sehen.
»Ich bin sofort unten«, sagte sie nur, während er die Tür schon hinter sich
zuzog.
Dr. Sandos hastete die Treppen hinunter und öffnete das Portal.
»Entschuldigen Sie bitte«, wandte er sich gleich an die Sängerin. »Sie sind
früher eingetroffen, als wir Sie erwartet haben.« Er streckte ihr die Hand
entgegen. »Dr. Sandos. Ich hoffe, dass Sie sich bei uns wohl fühlen. Was wir
für Ihre Zufriedenheit tun können, wollen wir tun.«
Sie lächelte leicht. »Danke! Sie haben mit Henry gesprochen! Sie wissen,
ich suche nur Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe!« Sandos gewann einen ersten
Eindruck von dieser kleinen, zierlichen,
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