010 - Skandal in Waverly Hall
übergeben. Zum Glück hatte er seit gestern abend nichts gegessen. Wie hatte dies geschehen können? Weshalb hatte Philip sterben müssen? Er war erst fünfzig Jahre alt gewesen, schlank und in bester Verfassung. Obwohl ihn die zahlreichen Reisen häufig in seuchengefährdete Orte wie Bombay geführt hatten, war er sein Leben lang nie ernsthaft krank gewesen.
Es kostete Dominick große Anstrengung, die Beine zu bewegen und an den Rand der Anhöhe zu treten. Verzweifelt sah er zu den Trauergästen hinab. Er würde keine Gelegenheit mehr haben, seinen Vater wirklich kennenzulernen.
Dominick brauchte nicht lange zu überlegen, um sich an ihre letzte Begegnung zu erinnern. Es war an seinem Hochzeitstag gewesen. Normalerweise vermied er es hartnäckig, an jenes Ereignis zu denken. Doch heute war eine Ausnahme.
Er stand mit seinem Vater und seinem Großvater auf den Stuten der kleinen Dorfkirche von Dulton und begrüßte die Gäste, die nur aus etwa zwei Dutzend Verwandten bestanden. Es waren lauter entfernte Verwandte, die ihn um das beneideten, was sie selber nicht besaßen. Er war das Ziel zahlreicher verstohlener Blicke und das Opfer heimlichen Getuscheis, doch er hatte beschlossen, so zu tun, als wäre nichts passiert - als hätte er den Skandal nicht bemerkt, den er in den Gärten von WaverlyHall verursacht hatte, direkt vor seinem eigenen Heim.
„Du könntest ruhig ein bißchen lächeln ", schlug Philip leise vor, als die ersten Gäste auf sie zutraten.
„ Worüber sollte ich lächeln?"
„Du hast dir diese Umstände selber zuzuschreiben", antwortete sein Vater, ohne den geringsten Vorwurf in der Stimme. „ Vielleicht solltest du dein Gewissen etwas mehr pflegen, Dominick."
Seine Schläfen pochten. Er verabscheute sich entsetzlich. „Du wirst es nicht glauben, aber ich besitze tatsächlich ein Gewissen."
Philip lachte höflich. „Dann hättest du schon vor Jahren daraufhören sollen - oder wenigstens auf deiner Verlobungsfeier mit Felicity."
Dominick holte verärgert Luft, und das Pochen in seinem Kopf nahm zu. „Eins zu Null für dich." Der Vater und er hatten es bisher sorgfältig vermieden, noch einmal auf jene Nacht zu sprechen zu kommen, in der man ihn in einer äußerst kompromittierenden Situation mit Anne Stewart ertappt hatte.
„Natürlich geht mich dein Gewissen - oder dessen Fehlen - nichts an. Du wirst dein eigenes Leben führen, wie du es immer getan hast. Doch ich hoffe, daß du dich eines Tages, wenn ich tot bin, benehmen wirst, wie es deinem Stand zukommt. "
„Ich hatte keine Ahnung, daß du dir Sorgen wegen meines Benehmen machst", antwortete Dominick barsch.
„Das tue ich auch nicht", sagte Philip. „Andererseits bist du mein Erbe. Alles, was du tust, fällt auf mich zurück."
Dominick antwortete seinem Vater nicht. Was hatte er bei seiner Hochzeit erwartet?
Eine herzliche Umarmung? Irgendein Zeichen von väterlicher Zuneigung, von echter Anteilnahme? „Ist es nicht ein bißchen spät für väterliche Ratschläge, Vater?"
„Zweifellos", erklärte Philip unverblümt.
Die schwarzgekleidete Trauergemeinde unten auf dem Friedhof rückte wieder in Dominicks Blickfeld und holte ihn in die Gegenwart zurück. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, daß er innerlich zitterte. Sein Vater hatte den eigenen Tod erwähnt, als er ihn das letzte Mal lebend gesehen hatte. Welche Ironie des Schicksals.
Dominick verdrängte die Erinnerung an jenes Gespräch vor vier Jahren. Doch sein schlechtes Gewissen nahm zu. Dabei empfand er ohnehin schon so viele Schuldgefühle - und soviel Reue -, daß es für ein ganzes Leben reichte.
Er holte tief Luft, um das innere Gleichgewicht wiederzufinden, und ließ den Blick über die vertraute Landschaft schweifen. Es war ein warmer, sonniger Sommertag.
Der Himmel war leuchtend blau, das Gras saftig grün, und die Blumen standen in voller Blüte. Das Gelände wellte sich zu sanften Hügeln. Waverly Hall zeichnete sich als hellrosa Fleck kaum sichtbar in der Ferne ab. Etliche Meilen hinter dem Herrenhaus lag die Kanalküste. Nach Norden hin stiegen die Hügel an und zwischen Hecken und Steinwällen weideten Schafe und Kühe.
Dominicks Blick kehrte zu dem offenen Grab zurück. Es wirkte seltsam fehl am Platze. Das feuchte, dunkle rötlichbraune Loch kam ihm wie eine klaffende Wunde in der fruchtbaren Landschaft vor. Dominick betete schon lange nicht mehr, glaubte nicht mehr an Gott. Doch jetzt spürte er plötzlich das dringende Bedürfnis, ein
Weitere Kostenlose Bücher