010 - Skandal in Waverly Hall
durchaus der Aufgabe gewachsen, den zurückhaltenden, kaltherzigen Viscount Lyons zu zähmen", erklärte Felicity lachend, und ihre blauen Augen leuchteten. „Keine Sorge, ich vergesse nicht, daß ich eines Tages Marchioness of Waverly und später Duchess of Rutherford sein werde!"
Anne hielt es nicht mehr aus. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie der goldblonde braungebrannte Dominick Felicity warmherzig anlächelte und sich ein tiefes Grübchen in seiner rechten Wange bildete. Sie sprang auf und lief über den wertvollen dunkelblauen Perserteppich an dem Himmelbett vorbei zur Tür.
„Wo willst du hin, Anne?" rief Edna scharf. „Komm sofort zurück, junge Dame."
Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Anne nicht auf ihre furchteinflößende Tante.
Um ihren letzten Stolz zu bewahren, eilte sie aus dem Raum.
Anne stand allein an der Wand des Ballsaals von Waverly Hall, dem Hauptwohnsitz von Dominicks Vater Philip, dem Marquess of Waverly. Sie sah über die Köpfe der Anwesenden hinweg zum Eingang, wo die Familie St. Georges, ihre Tante, ihr Onkel, ihre Cousine und ihre Vettern standen und die Gäste begrüßten. Sehnsüchtig blieb ihr Blick an Dominick St. Georges haften.
Dominick sah phantastisch aus. Er trug einen schwarzen Frackrock und eine schwarze Hose mit Seidenstreifen. Die Saphire in den Manschettenknöpfen seines schneeweißen Hemdes funkelten im Schein der fünf gewaltigen Kronleuchter. Er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Sein markantes Profil war beinahe zu vollkommen. Am meisten verblüfften jedoch die typischen Farben aller St. Georges: seine goldbraune Haut, seine topasfarbenen Augen und sein dichtes goldbraun gesträhntes Haar. Anne fühlte sich geradezu magisch von diesen Augen angezogen, in denen ein Hauch von Geheimnis, vielleicht auch von Tragödie lag. Es waren die Augen eines einsamen Mannes.
Jetzt stand er neben Felicity, die in ihrem prächtigen zartblauen Abendkleid einfach fabelhaft aussah. Sie strahlte über das ganze Gesicht, während Dominick dem endlosen Strom der Gäste nur höflich zunickte, die den beiden Verlobten gratulierten. Es war bekannt, daß er selten seine Gefühle zeigte.
Felicity lachte ständig und klammerte sich an ihn. Anne hatte die Cousine noch nie so ausgelassen erlebt. Dominick war zwar aufmerksam gegenüber seiner Braut, wirkte jedoch ein bißchen gelangweilt.
Plötzlich sah er durch den Saal zu Anne hinüber, wandte sich aber rasch wieder ab.
Anne rührte sich nicht.
Nicht zum erstenmal an diesem Abend begegneten sich ihre Blicke auf diese unerklärliche Weise. Endlich hatte Dominick sie wahrgenommen, doch Anne begriff nicht, weshalb. Ihre Wangen waren blaß, ihre Augen geschwollen. Ihre Miene war ausdruckslos, und ihre Nasenspitze war gerötet. Sie trug ein schlichtes kindliches Kleid, das sie von Felicity geerbt hatte. Es war marineblau und trotzdem nicht dunkel genug für ihre Stimmung. Schwarz wäre ihr am liebsten gewesen.
Wieder drehte Dominick den Kopf, sah an dem Geistlichen und dessen Gattin vorbei und blickte Anne direkt in die Augen.
Sie wandte sich nicht ab, sondern reckte den Kopf höher. Sofort löste Dominick den Blickkontakt. Er legte den Arm um Felicitys Taille und richtete einige Worte an den Pfarrer.
Es war ein seltsamer Augenblick, der nichts zu bedeuten hatte. Die Verlobung war offiziell bekanntgegeben worden, und Dominick hatte einen herrlichen achtkarätigen Saphir an Felicitys Finger gesteckt, der von unzähligen funkelnden Diamanten umgeben war. Die Gäste hatten geklatscht, und Dominick hatte seine Braut auf die Wange geküßt.
Felicity flüsterte Dominick etwas ins Ohr. Er mußte sich zu ihr hinabbeugen, damit er sie verstehen konnte. Ihr Busen, der in dem tiefausgeschnittenen Kleid hervorragend zur Geltung kam, preßte sich an seinen Arm. Dominick machte keine Anstalten, sich zu lösen. Sein rechter Arm lag immer noch um Felicitys Taille. Die beiden waren ein ausgesprochen schönes, ja ideales Paar.
Anne wandte sich entschlossen ab - und stieß direkt mit einem anderen Mann zusammen.
„Hoppla", sagte der Duke of Rutherford und hielt sie fest, damit sie nicht stürzte. Ein rubinroter Siegelring glänzte an seiner rechten Hand. „Guten Abend, Anne. Weshalb bist du nicht bei deiner und meiner Familie und begrüßt die Gäste?"
Anne sah zu dem Herzog auf. Er schüchterte sie immer noch ein wenig ein, obwohl er sehr nett zu ihr war. Doch er war einer der ranghöchsten, reichsten und mächtigsten Männer
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