010 - Skandal in Waverly Hall
doch nicht wirklich vor, die ganze Woche mit ihr in diesem Zimmer zu verbringen? Trotz ihrer moralischen Entrüstung begann ihr Körper bei dieser Vorstellung, von Kopf bis Fuß zu prickeln.
Plötzlich beugte Dominick sich über sie und küßte sie lange und verzehrend. Als er sich von ihr löste, funkelten seine Augen. „Ich habe keine Ahnung, was mit uns passiert ist, Anne. Aber irgend etwas geht zwischen uns vor."
Anne wagte weder, ihm zu widersprechen noch ihm zuzustimmen.
„Außerdem ist es mir im Moment völlig egal", fuhr er fort und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. „Ich werde dich die ganze Nacht lieben", fügte er heiser hinzu.
Einen flüchtigen Augenblick kam Anne der Gedanke, daß sie sich wehren müßte -
oder zumindest so tun sollte. Doch sie hatte Dominick eine ganze Woche versprochen. Wozu dann die Verstellung? Vor allem, nachdem er schon wieder das Feuer schürte, das sich rasch in ihrem ganzen Körper ausbreitete.
Entschlossen drückte Dominick sie auf die Kissen zurück und machte ihr seine Absicht mit den Lippen und den Händen klar.
Anne ging draußen spazieren. Sie war allein.
Die Sonne strahlte vom Himmel und vertrieb die letzten Wolken, als hätte es den Sturm gestern abend nie gegeben. Anne trug keinen Hut. Die gleichmäßige Brise vom Meer zerrte an ihrem Haar und löste winzige Strähnen aus dem Knoten, die sich um ihr Gesicht kräuselten. Sie hatte eine leichte Pelerine übergezogen und die Hände tief in die Ta-sehen geschoben. Es war beinahe Mittag. Sie hatte restlos verschlafen - und das aus gutem Grund.
Anne errötete schon bei dem Gedanken daran, und ihr Herz begann zu pochen.
Gleichzeitig jubelte sie innerlich.
Energisch verdrängte sie das Hochgefühl. Sie hatte die letzte Nacht mit Dominick verbracht, um ihren Teil an der seltsamen Vereinbarung zu erfüllen - damit er Waverly Hall und sie wieder verließ. Einen anderen Grund dafür gab es nicht. Doch sosehr sie es sich auch einredete, sie schwebte beinahe im siebten Himmel.
Sie hatte keine Ahnung, wo Dominick war. Thomas hatte erzählt, Seine Lordschaft wäre schon am frühen Morgen ausgeritten. Sie war nicht aufgewacht, als er das Bett verließ.
Plötzlich fiel Anne ein, wie Dominick sie überlistet hatte. Die Schlafzimmertür war gar nicht abgeschlossen gewesen. Morgens hatte sie festgestellt, daß das Schloß beschädigt und unbrauchbar war.
Eine heftige Erregung erfaßte sie. Die letzte Nacht würde sie bis zum Ende ihrer Tage nicht vergessen. Entgegen ihren Befürchtungen hatte Dominick nichts Außergewöhnliches von ihr verlangt. Er hatte sie fast die ganze Nacht geküßt und liebkost und sie so oft befriedigt, als könnte er nicht genug von ihr bekommen.
Es war beinahe, als verzehrte er sich vor Liebe nach ihr.
Entschlossen schob Anne den Gedanken beiseite. Dominick war ein äußerst erfahrener Liebhaber, der es verstand, sie im Bett glücklich zu machen. Aber sie durfte die letzten vier Jahre nicht vergessen. Vor allem durfte sie nicht vergessen, daß sie etwas besaß, das er unbedingt wollte. Waverly Hall war für ihn gewiß wichtiger, als ihr Körper es aller Wahrscheinlichkeit nach je sein konnte.
Trotzdem ließ eine kleine innere Stimme ihr keine Ruhe. Und wenn doch? neckte sie Anne. Wenn Dominick sich tatsächlich vor Verlangen nach dir verzehrt? Wenn er dich wirklich liebt?
Anne atmete tief durch und blieb neben einer kleinen Koppel stehen, auf der zwei kräftige Pferde grasten. Sie durfte an diese Möglichkeit nicht einmal denken, sondern mußte sich ausschließlich an die Wirklichkeit halten und sich stets daran erinnern, weshalb sie mit Dominick in Tavalon Castle war. Sie wollte, daß er Waverly Hall - und sie - so schnell wie möglich wieder verließ.
Eines der beiden Pferde hob den Kopf und schnaubte.
„Hallo, alter Junge", sagte Anne leise.
Das Pferd blieb regungslos stehen und beobachtete sie mit seinen glänzenden Augen. Anne trat näher und wünschte, sie hätte einen Apfel oder eine sonstige Leckerei für das Tier dabei. Sie stützte sich auf den Zaun - und mußte plötzlich an den Steigbügel mit dem zerrissenen Lederriemen denken, den Belle und sie im Reisekoffer gefunden hatten.
Anne straffte sich innerlich. Sie hatte keine Ahnung, weshalb ihr jemand diese Mahnung an den Reitunfall mitgegeben hatte. Das war eine ausgesprochene boshafte Geste. Zwar war sie sicher, daß es sich um einen Scherz handelte, aber trotzdem blieb ein unbehagliches Gefühl zurück.
Weshalb sollte
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