010 - Skandal in Waverly Hall
und winkte zögernd. Doch der Reiter verschwand ebenso plötzlich hinter einem Steinwall, wie er gekommen war.
Dominick mußte sie gesehen haben. Gewiß war er sofort losgeritten, um sie einzuholen. Jemand anders konnte es nicht gewesen sein.
Anne wartete und wartete, aber der Reiter blieb verschwunden. Sie wurde immer nervöser, und ihr Herz begann zu pochen. Dominick hätte längst bei ihr sein müssen.
Wer war sonst hier draußen? Und weshalb ritt er ihr nach und beobachtete sie?
Entschlossen drängte Anne ihr Pferd zu einem Trab und ließ es gleich darauf in einem leichten Galopp fallen. Wahrscheinlich war sie eine Närrin und bildete sich nur ein, daß sie beobachtet wurde, doch wenn sie jetzt belästigt wurde, war niemand da, der ihr helfen konnte.
Als sie sich das nächstemal umdrehte, stellte sie fest, daß der Unbekannte auf dem rotbraunen Pferd jetzt hinter ihr war und auf demselben Pfad ritt wie sie. Er schien sorgfältig darauf zu achten, daß der Abstand zu ihr nicht geringer wurde.
Annes Angst nahm zu, und sie trieb den Grauen stärker an. Sie merkte, daß der andere Reiter ebenfalls schneller wurde. Also verfolgte er sie wirklich. Sie gab ihrem Tier einen leichten Schlag mit der Peitsche. Es fiel in einen rascheren Galopp und preschte mit ihr den steilen gewundenen Weg hinab. Sie warf einen weiteren Blick über die Schulter. Der andere Reiter war wieder verschwunden.
Anne schwitzte heftig und ließ den Wallach den Schritt verlangsamen. Sie hatte die Finger immer noch um die Zügel gekrallt und konnte sich nicht entspannen. Das Bild des zerrissenen Steigbügels kam ihr wieder in den Sinn. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu den Kleidern in ihren Reisekoffer zu legen. Weshalb? Das finstere Erinnerungsstück an ihren Reitunfall und ihre nahe Begegnung mit dem Tod war so untergebracht gewesen, daß sie es auf jeden Fall hatte finden müssen.
Ebenso wie die verkohlte Rose auf ihrem Kissen, die eine Erinnerung an den Brand in ihrem Schlafzimmer gewesen war.
Annes Atem wurde flacher. Gewiß ging die Phantasie mit ihr durch. Erneut blickte sie sich um. Der andere Reiter blieb verschwunden. Niemand war zu sehen.
Anne schalt sich energisch für ihre Dummheit. Kein Mensch versuchte, sie zu ängstigen oder ihr gar einen Schaden zuzufügen. Der Gedanke, daß das Feuer in ihrem Schlafzimmer und das durchgehende Pferd keine Unfälle gewesen sein könnten, war absurd. Wer immer der Witzbold war, er hatte sich einen kleinen, wenn auch bösartigen Scherz erlaubt.
Die beiden Unfälle waren rein zufällig zeitlich zusammengetroffen. Nein, niemand wollte ihr angst machen. Und erst recht wollte ihr niemand schaden.
Sie hatte keine Feinde. Außerdem wurde sie auch nicht mehr verfolgt. Das Auftauchen des anderen Reiters war ebenfalls ein Zufall gewesen, den sie total überbewertet hatte.
Zu ihrer großen Erleichterung entdeckte Anne plötzlich den Bergfried von Tavalon Castle. Der eckige Steinturm hob sich leuchtend rot vor dem strahlenden Himmel und dem glänzenden dunkelblauen Meer ab.
Anne ließ den Grauen in einen scharfen Trab fallen und atmete tief durch.
Vorsichtshalber blickte sie sich noch einmal um.
Sie entdeckte die Silhouette des Reiters auf dem Bergkamm über sich sofort.
16. KAPITEL
Mit langen energischen Schritten betrat Patrick das „Red Deer Inn". Der vierschrötige Wirt sah ihm lächelnd entgegen, wurde aber ernst, sobald er die Miene seines Gastes bemerkte. Schweigend hielt er ihm den Zimmerschlüssel hin.
Patrick nahm ihn an sich, ohne stehenzubleiben, und stapfte die schmale Treppe hinauf.
Er betrat sein Zimmer und schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.
Vier Jahre, dachte er erbost und lief erregt auf und ab. Vier Jahre war er immer für Anne dagewesen. Er hatte ihr jeden Wunsch erfüllt, sie umsorgt und geliebt. Und nun dies.
Es war alles umsonst gewesen. Der unselige Dominick war in Annes Leben zurückgekehrt, als hätte es die Vergangenheit nicht gegeben.
Patrick fuhr herum und schleuderte den Schlüssel an die Wand. Wann würde Anne endlich einsehen, daß Dominick nichts taugte, was Frauen betraf? Daß er unzuverlässig war, egoistisch und nur auf den eigenen Vorteil bedacht? Arrogant und gemein?
Patrick hielt es kaum noch aus. Am liebsten hätte er sich die Haare gerauft und den Mond angeheult. Er liebte Anne seit Jahren. Aber sie hatte sich auf Anhieb in Dominick verliebt, als sie vor fast zehn Jahren als trauriges Waisenkind in Hunting Way
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