0103 - Im Bannstrahl des Verfluchten
nichtswürdigen Herrn standen.
Kim Lisöjn sah, daß es aus einigen Schüsseln dampfte. Warum meldete sich nur sein Hunger nicht?
Noch vor kurzer Zeit - oder war es vor langer Zeit? - hatte er gedacht, seine kräftigen Zähne in alles schlagen zu können, was auch nur eßbar aussah.
Dann dämmerte es ihm, warum sein Magen revoltierte.
Was hier so üppig aufgetragen wurde, konnte nur eine Henkersmahlzeit sein!
Er war beim Studium seiner Bücher oft auf das Phänomen gestoßen, daß offenbar über die ganze Welt verstreut bei vielen der verschiedenartigsten Stämme der Brauch geübt wurde, einem Opfer vor dem gewaltsamen Ableben noch etwas Gutes zukommen zu lassen. Reste dieses Brauchtums hatten sich noch in seine Zeit gerettet. Das Idiom von der »Henkersmahlzeit« gibt es in sämtlichen Kultursprachen zwischen Nord- und Südpol.
Danach wurde er seltsam ruhig.
Für einen Mann wie Kim Lisöjn war es gut zu wissen, was ihm blühte. Das nahm einem die Hoffnung, nahm einem sogar den Nährboden für den Selbsterhaltungstrieb, der bei ihm ohnehin schon vorher fast abgestorben war.
Man muß kein Fatalist sein, um sich mit gegebenen Tatsachen abzufinden. Das war mehr eine Sache der persönlichen Einstellung. Und Kim Lisöjn neigte nicht zu panischem Entsetzen. Das konnte ihm nur durch Überraschungen bereitet werden.
Also sollte er sterben. Einen Ausweg gab es nicht. Wozu also noch groß lamentieren?
Damit kehrte - seltsam genug - auch wieder das Gefühl in seinen geschundenen, ausgezehrten Körper zurück, die Empfindung von Ekel verschwand. Er versuchte, seine Arme, seine Finger zu bewegen, und es ging. Die Männer hinter ihm brauchten ihn nicht mehr zu stützen. Er fiel auch ohne sie nicht mehr vom Hocker. Er sah den Dingen, die noch kommen sollten, eher gefaßt entgegen. Er wurde ruhig.
Sein Geruchssinn registrierte den Dampf aus den Schüsseln als die Ausdünstungen von gekochtem Fisch, mit Surijn abgewürzt. Kim Lisöjn war dieser wildwachsende Strauch auch als Hexenkraut bekannt. Seinen Nadeln und vor allem seinem Sud wurden schon von jeher Zauberkräfte zugeschrieben, die sowohl Knochenbrüche heilen als auch die spröde Geliebte willfähriger machen sollten.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die anderen Männer sich respektvoll vom langen Tisch entfernten und einen Halbkreis darum bildeten.
In ihren Reihen bildete sich eine breite Gasse, und durch sie kam ein Wesen, das Kim Lisöin in denkbar schlechter Erinnerung hatte.
Es hatte ihn auf diese widersinnige Weise aus seinem gemütlichen Labor geholt.
Doch da war diese Gestalt irgendwie sphärisch gewesen. Nicht aus Fleisch und Blut.
Aber der hochgewachsene Mann, der jetzt zielstrebig den Lehnstuhl ansteuerte, unterschied sich von seinen Vasallen lediglich durch den Umstand, daß er als einziger in diesem Wehrdorf keinen Bart trug und hochgewachsener war. Kim Lisöjns Größe erreichte er deshalb immer noch nicht. Die Fenna waren eher gedrungen und breitschultrig. Dieser Mann war von einer aristokratisch anmutenden Zartgliedrigkeit, die ihn sehr deutlich von den übrigen Fenna abhob.
Der Mann vollführte eine spöttische Verbeugung vor Kim Lisöjn. Sein pechschwarzes langes und gepflegtes Haar rutschte ihm dabei über die Schultern nach vorne.
»Willkommen, Mann aus der Zukunft«, sagte er. »Greif nur zu.« Er deutete auf die Schüsseln, Teller und auf die übrigen Gefäße. »Wir werden uns deine letzte Mahlzeit teilen.« Und während er sich den Stuhl zurechtzog, um sich zu setzen: »Ich heiße Narko.«
»Angenehm«, erwiderte Kim Lisöjn sarkastisch. Er konnte sogar wieder sprechen. »Meinen Namen kennst du ja wohl.«
Narko sah nur einen kurzen Augenblick indigniert auf. Dann war das alte, arrogante Grienen wieder auf seinen Zügen.
»Natürlich kenne ich dich, Kim Lisöjn. Schließlich warst du es, der mich gerufen hat. Ich wußte, daß dieser Augenblick eines Tages kommen würde.«
Kim Lisöjn ersparte sich die Frage nach dem »Woher«. Magier und hellseherisch veranlagte Menschen hatte es zu allen Zeiten gegeben. Einem solchen schien er jetzt gegenüberzusitzen.
»Narko« hatte er sich genannt. Dieser Name war für Kim Lisöjn ebensogut oder ebensoschlecht wie ein anderer. Nichts änderte sich an der Tatsache, daß er von ihm zum Opferlamm erkoren worden war und daß Kim Lisöjn keinerlei Mittel hatte, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Die Fenna hatten sich zwar etwas vom Tisch zurückgezogen, doch einige hielten Lanzen und Speere
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