0104 - Wir und das Wachsfigurenkabinett
Strümpfestopfen und schimpfte dabei mit einem kleinen Jungen, der dabei war, seine Schwester an den Haaren zu ziehen. In einem breiten Bett lag eine alte Frau und schlief.
»Sie sind Mrs Caramelli?«, fragte ich.
»Ja, Mister«, antwortete sie unsicher.
»Sie haben einen Sohn, der als Bote im ›Venetia‹ arbeitet?«
»Ja, Alfredo. Hat der Bengel etwas angestellt?«, fragte sie mit ängstlichen Augen.
»Ist er denn nicht krank?«
»Alfredo krank? Er ist doch wie immer um elf Uhr zu Arbeit gegangen. Gehen Sie nur hinüber und fragen Sie nach ihm.«
»Alfredo ist heute nicht gekommen«, redete mein kleiner Begleiter dazwischen. »Er hat einen anderen geschickt und sagen lassen, er sei krank.«
»Der verfluchte Lausejunge. Der kann sich auf was gefasst machen, wenn er nach Hause kommt«, schimpfte die Frau, und ich konnte mir wohl vorstellen, was für Prügel ihr Sohn bekommen würde, wenn er sich sehen ließ… wenn er sich sehen ließ.
Ich machte mir meine eigene Gedanken darüber. Leute, die einen Mord planen, sind im Allgemeinen nicht wählerisch in ihren Mitteln. Hoffentlich war dem Jungen nichts Schlimmeres geschehen als die zu erwartenden Prügel. Ich ließ die schimpfende Frau allein, schickte den Küchenjungen wieder an seine Arbeit und begab mich im Eiltempo zurück zum Hautquartier der City Police.
Bei der Unfallmeldestelle war wie immer Hochbetrieb. Ich schnappte mir den Beamten, der die Liste führte, und ließ mir diese vorlegen. Es war jetzt drei Uhr. Es ist erstaunlich, was in einer Großstadt innerhalb von vier Stunden alles passiert. Drei Seiten hatte ich schon überflogen, als ich auf das stieß, was ich befürchtet, aber nicht erhofft hatte.
Ein imbekannter, wahrscheinlich italienischer Junge von ungefähr 14 Jahren war an der Ecke der Mulberry und Grand Street von einem Personenwagen angefahren und bedenklich verletzt worden. Das war genau auf dem Weg, den Alfredo einschlagen musste, und auch die Zeit 11.05 Uhr stimmte. Ich ersuchte festzustellen, in welchem Krankenhaus der Junge lag, und bat darum, Mrs Caramelli zu benachrichtigen und dort hinzubringen.
Alles reihte sich folgerichtig aneinander. Tullio war von Pete beauftragt worden, Carmen zu beobachten. Das hatte der Mörder nicht gewusst, aber es erfahren, und er musste befürchten, dass Tullio ihn nach dem Mord erkannt hatte. DieTatsache, dass der Alte in Haft gehalten wurde, musste diesen-Verdacht verstärkt haben.Vielleicht hatte er auch sonst noch etwas gewusst, was zu sagen er sich gefürchtet hatte, und er war zum Schweigen gebracht worden, bevor er es sich anders überlegen konnte.
Lieutenant Crosswing rannte in seinem Büro herum und tobte. Vor ihm standen die schlotternden Gestalten des Gefängnis-Sergeanten und des Pförtners.
Als ich kam, warf Crosswing die beiden Männer hinaus, aber ich brauchte noch mindestens fünf Minuten, bis ich ihn soweit beruhigt hatte, dass ich ihm berichten konnte, wie die Sache vor sich gegangen war.
Ich fuhr zum Districtsbüro zurück.
»Na, Jerry, was hat Tullio dir verraten?«, fragte Phil. Ohne den Kopf zu heben und ohne damit aufzuhören, die Tasten einer Schreibmaschine zu bearbeiten.
»Tullio ist tot, vergiftet.«
Das Klappern hörte schlagartig auf.
»Ver… gif… tet.«
»Ja.« Und dann erzählte ich.
Mein Freund konnte nur mit dem Kopf schütteln. Wenn er es fertig gebracht hätte, mit den Ohren zu schlackern, so hätte er das ebenfalls getan.
»Wenn ich nur wüsste, was das alles zu bedeuten hat«, seufzte er.
»Pete würde uns das sagen können, wenn er noch lebte.«
»Die Frage ist nur, ob wir uns überhaupt darum kümmern sollen. Ich denke, wie haben gerade genug zu tun, wenn wir Petes Mörder fassen wollen. Du vergisst, dass uns dieser Fall eigentlich nichts angeht.«
Das war es gerade, worüber ich nachdachte.
Carmen Rodriguez, das hübsche braunhäutige Mädchen, dem irgendein Lump sein Messer ins Herz gestoßen hatte. Die Tote verfolgte mich und ließ mich nicht los. Ich dachte vielmehr an sie als an Jane, die doch Petes Braut gewesen war.
»Hör auf zu grübeln«, mahnte Phil. »Pass auf, was ich inzwischen erledigt habe. Ich tippe eben das Resultat der Ermittlungen über Pullham. Das Wichtigste ist, dass niemand etwas von Familienangehörigen weiß, die in New York wohnen. Er war bis vor sechs Jahren in Chikago verheiratet. Seine Frau ließ sich damals scheiden. Die beiden Töchter blieben bei ihr und sind es noch. Pullhams Eltern sind schon lange tot.
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