0107 - Die Hand des Hexers
vergießen, ist ein eindeutiger Beweis dafür, daß das Böse in ihr steckt!« Der Richter grinste Flo gemein an. »Weil du nicht geständig bist, wirst du den Feuertod sterben, Hexe. Mein Urteil lautet: Bringt sie auf den Scheiterhaufen!«
***
Sie saß in einem großen Karren, der durch Londons Straßen rollte. Ein Büßerhemd aus grauem grobem Leinen hüllte ihren geschundenen und gequälten Körper ein. Sie war gefesselt. Und obwohl sie wußte, daß ihre Zukunft auf dem Richtplatz endete, war sie unfähig, eine weitere Träne zu vergießen. Sie hatte schon zuviel geweint.
Am Straßenrand standen Menschen, die sich entweder bekreuzigten oder schnell von ihr abwandten oder sie feindselig anstarrten und sie bespuckten. Einige von ihnen ballten die Fäuste und zeigten sie ihr drohend.
»Verbrennt sie!« schrien die Menschen.
»Übergebt sie dem Feuer!«
Und wieder hörte Flo die vielen Schimpfnamen, mit denen man erkannte Hexen bedachte:
»Schauerbrüterin!«
»Hagelanne!«
»Mantelfahrerin!«
Der Karren - er wurde von zwei kräftigen Pferden gezogen - erreichte den Richtplatz. Flo Danning erblickte den Scheiterhaufen, aus dem ein dicker Pflock ragte. An ihn würde man sie binden. Und dann würde der Henker seine Fackel nehmen und sie an den Scheiterhaufen halten. Flo krampfte es das Herz zusammen. Sie wußte immer noch nicht, womit sie sich ein solches Ende verdient hatte. Sie war sich keiner Schuld bewußt. Unglücklich, fassungslos und von unsagbaren Schmerzen gepeinigt stand sie im rumpelnden Karren.
Zahlreiche Menschen hatten sich auf dem Richtplatz eingefunden.
Sie alle wollten die Hexe brennen sehen.
Menschen, die vor dreihundert Jahren gelebt hatten.
Flo Danning konnte diese rätselhafte Konfrontation nicht begreifen. Sie hatte im zwanzigsten Jahrhundert gelebt. Sie gehörte nicht hierher…
Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle?
Sie war hier - und sie würde ein furchtbares Ende auf diesem Scheiterhaufen nehmen.
Unschuldig!
Doch auf diesem großen, menschenüberfüllten Platz gab es keinen, der ihr das geglaubt hätte.
Hyram Bell hatte sie aus ihrer Zeit in dieses Jahrhundert geholt, und es war ihr nicht möglich gewesen, dem grausamen Hexenjäger zu entfliehen.
Sie wurde losgebunden.
Man zerrte sie auf den Scheiterhaufen, neben dem der Henker mit der bereits brennenden Fackel stand, und auch er - es wunderte Flo Danning nun schon fast nicht mehr - hatte das Gesicht von… Hyram Bell! Die Schergen banden sie an den Pfahl. Flo war dermaßen erschöpft, daß ihr der Kopf auf die Brust sank. Sie hörte einen Mann mit kräftiger Stimme die Anklageschrift verlesen.
Es war irrsinnig, was ihr vorgeworfen wurde, doch sie hatte keine Möglichkeit, sich dagegen aufzulehnen, beziehungsweise auch nur einen einzigen Anklagepunkt zu entkräften.
Heiß brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel.
Es war ein herrlicher Tag, an dem Flo Danning sterben mußte.
Sie hörte den Mann, der die Anklageschrift verlesen hatte, sagen: »Henker, walte deines Amtes!«
Als dieser sich dem Scheiterhaufen zuwandte, hielt die Menge den Atem an. Er schob seine Fackel in das Holz, wartete geduldig, bis die knochentrockenen Äste Feuer gefangen hatten, ging weiter, steckte die Fackel wieder zwischen das Holz, setzte den Scheiterhaufen ringsherum in Brand, stellte sich dann vor Flo Danning hin und knurrte zufrieden: »Ich wünsche dir eine gute Höllenfahrt!«
***
Die Sonne, dachte Flo. Sie ist so entsetzlich heiß. Ihre Hitze versengt mich. Es knisterte, knackte und prasselte um sie herum. Sie hob den Kopf und öffnete mühsam die Augen. Die Welt lag hinter einem zitternden, flirrenden Vorhang. Flo blickte in die Sonne, ohne daß sich ihre Augen verengten.
»Ich komme!« flüsterte sie. »Ich komme zu dir! Deine Hitze saugt mich auf! Ich fühle, wie du mich anziehst. Bald werde ich schweben. Die Erde wird hinter mir Zurückbleiben, und ich werde zum Himmel emporsteigen. Frei. Erlöst. Schwerelos. Alles Irdische zurücklassend…«
Das Prasseln wurde lauter.
Der wabernde Vorhang nahm eine rötliche Färbung an, rückte immer näher an das Mädchen heran.
Ihr Büßerhemd fing Feuer.
Sie merkte es nicht.
Flo Danning hatte das Glück, keinen Schmerz mehr fühlen zu können. Sie ließ ihren Kopf langsam zur Seite sinken.
Ihr Atem ging flach.
Die Flammen fraßen ihr gierig den Sauerstoff weg, leckten über ihr zerzaustes blondes Haar, über ihr Gesicht, und sie tat in der Überzeugung ihren letzten Atemzug,
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