011 - Das Mädchen in der Pestgrube
holte mein Spezialbesteck aus der Rocktasche, und innerhalb von zehn Sekunden war die Tür offen. Noch einmal blickte ich mich rasch um, dann öffnete ich die Tür und betrat ein verschwenderisch eingerichtetes Vorzimmer. Ich zog die Tür leise hinter mir zu.
Auf dem staubigen Parkettboden lagen kostbare Teppiche. Die Einrichtung bestand aus echten Barockmöbeln, die jedem Antiquitätenhändler Entzückungsschreie entlockt hätten. Die Luft war abgestanden. Es mußte Wochen her sein, seit der Raum das letzte Mal belüftet worden war. Ich öffnete einige Schränke und Laden: alle waren leer. Als ich mich jedoch bückte, um einen weiteren Schrank zu untersuchen, sah ich im Staub deutlich einen Fußabdruck. Nach der Größe des Abdrucks zu schließen, mußte ihn eine Frau verursacht haben, höchstens Schuhgröße Nummer sechsunddreißig. Ich richtete mich auf. Also war ich nicht der erste, der dieser unbewohnten Wohnung einen Besuch abstattete.
Vorsichtig ging ich weiter, nur über die Teppiche, auf denen ich kaum sichtbare Fußspuren hinterließ. An der Stirnseite der Diele befand sich eine kunstvoll verzierte Tür. Knapp davor sah ich wieder einen Fußabdruck. Ich öffnete die Tür und blieb überrascht stehen. Der Raum war mehr als zehn Meter lang. Die linke Seite wurde von drei großen Fenstern eingenommen, die Wände waren mit hellem Holz getäfelt. Die Decke zierte ein gewaltiges Gemälde, und überall waren Spiegel angebracht, die fast bis zur Decke hochreichten. An den Wänden standen winzige Barocktische mit schweren Kerzenleuchtern.
Ich fühlte mich in eine andere Welt versetzt. Zögernd trat ich auf den riesigen farbenfrohen Teppich, der fast den ganzen Boden bedeckte. Auf dem Teppich zeichneten sich wieder deutlich Fußspuren ab. Ich folgte ihnen. Sie führen quer durch das Zimmer auf eine Tür zu. Bevor ich diese jedoch erreichte, fing die Luft zu flimmern und sausen an, und eine Duftwolke schwebte auf mich zu, die mir fast den Atem raubte. In der Mitte des Raumes flimmerte die Luft stärker. Dann sah ich einen Schatten, der sich leicht bewegte. Unendlich langsam nahm er Gestalt an. Ich erkannte die Umrisse einer Frauengestalt, die von Sekunde zu Sekunde plastischere Formen bekam.
Ich hielt den Atem an. Es war eine junge Frau, die mir den Rücken zuwandte. Sie trug einen knöchellangen grünen Rock, darüber eine weiße Schürze und gelbe Schuhe mit einem winzigen Absatz. Der Oberkörper steckte in einem braunen Mieder, aus dem eine weiße hemdartige Bluse hervorlugte. Das blonde Haar war unter einer seltsam geformten goldbraunen Haube versteckt. In der rechten Hand trug sie einen kunstvoll verzierten Fächer, in der linken ein gelbes Tuch. Jetzt drehte sie sich um und blickte in meine Richtung.
»Eva«, rief ich.
Es gab keinen Zweifel: Es war die Frau, die ich bei Helnwein gesehen hatte. Sie schien mich überhaupt nicht zu beachten. Ich lief auf sie zu und griff nach ihr. Meine Hand glitt durch ihren Körper hindurch. Ich probierte es nochmals – vergebens. Die Frau war körperlos.
Ich blieb stehen und beobachtete sie. Sie ging zu einem der winzigen Tischchen, steckte den Fächer in eine der Taschen ihrer Schürze und wischte mit dem Tuch über eine Tischplatte. Dabei bewegte sie die Lippen leicht. Sie schien vergnügt vor sich hinzusummen, doch ich hörte keinen Ton. Langsam ging sie zu einem anderen Tisch und polierte die Platte.
Ich kniff die Augen zusammen. Was hatte das zu bedeuten? Nach Evas Kleidung zu schließen, sah ich eine Szene vom Ende des 17. oder Anfang des 18. Jahrhunderts. Ich ließ sie nicht aus den Augen. Sie summte weiter vor sich hin, blieb plötzlich stehen und drehte sich vergnügt im Kreis.
Dann wurde die Tür geöffnet, und ein Schatten trat ins Zimmer. Ein konturloses Etwas. Die Tür fiel lautlos zu, und der Schatten näherte sich Eva, die sich ängstlich gegen die Wand preßte. Das Tuch war ihren Händen entfallen. Sie sagte etwas und preßte beide Hände gegen den wogenden Busen. Der Schatten nahm langsam Konturen an. Es war ein hochgewachsener Mann. Er trug eine dunkelbraune Perücke, über die ein breitkrempiger brauner Hut gestülpt war. Sein Gesicht war hager und glatt rasiert. Er hatte einen knielangen braunen Rock an, unter dem ein Degen hervorblitzte. Seine Waden steckten in Seidenstrümpfen, und er trug Schuhe, die mit Silberschnallen verziert waren.
Das Gesicht des Unbekannten verzerrte sich leicht, als er vor der jungen Frau stehenblieb, die immer heftiger
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