012 - Der mordende Schrumpfkopf
Aber bitte nicht brutal! Ich brauche genau
zwanzig Minuten, um mit ihr zu sprechen. Mehr Zeit steht mir sowieso nicht zur
Verfügung. Dann muß sie wieder auf die Bühne.«
Kamoo nickte wortlos und nahm seine Stellung ein. Auf Zehenspitzen
näherte Vernon sich der Garderobentür.
Er warf noch mal einen Blick zurück. Wie eine Silhouette zeichneten
sich die Umrisse des muskulösen Körpers des Eingeborenen an der Gangecke ab.
Kein anderer Mensch war sonst weit und breit in der Nähe. Das war verständlich.
Sie alle wollten Estrello erleben, und selbst wenn sie ihn in den beiden
letzten Tagen schon gesehen hatten. Seine einmaligen Vorführungen zogen die
Massen wie ein Magnet an.
Sekundenlang stand Vernon vor der Tür, hinter der er Anja wußte.
X-mal war er in Gedanken sein Vorhaben durchgegangen, aber jetzt unmittelbar
vor der Ausführung war doch alles ganz anders.
Sollte er anklopfen? Es wäre richtig gewesen, vielleicht... Er
wußte es nicht. Er benahm sich wie ein Dieb, der fürchtete, entdeckt zu werden.
Aber er mußte es riskieren. Es gab keinen anderen Weg.
Paul Vernon drückte die Klinke herab. Ganz leise. Die Tür war
nicht verschlossen. Lautlos schob er sie nach innen.
Die Tür blieb spaltbreit geöffnet. Vernon wartete auf einen Ruf.
Aber nichts geschah.
Er öffnete die Tür so weit, daß er bequem den Raum betreten
konnte.
Der Duft eines rassigen Parfüms, das ihm bekannt war, hüllte ihn
ein.
Die Garderobe enthielt ein Waschbecken, eine Liege, einen Tisch,
zwei bequeme Polstersessel und eine mit Brokatstoff bezogene spanische Wand zum
Umkleiden.
Über dem Waschbecken befand sich ein großer, randloser Spiegel.
Auf einem kleinen Tisch brannte eine rote Lampe und verlieh dieser
nüchternen Atmosphäre etwas Unwirkliches, Anheimelndes.
Anja saß in einem der Sessel und verlor sich fast völlig darin.
Die hübsche Russin drehte ihm halb das Profil zu. Leise bewegte Vernon sich
über den dicken Teppich.
Anja bemerkte nichts. Sie hatte die Beine von sich gestreckt und
griff nach der Zigarettenschachtel, die vor ihr auf dem Tisch lag, nahm ein
Stäbchen heraus und steckte es sich zwischen die Lippen.
Eine Minute verging. Vernon wagte kaum zu atmen.
Wie würde sie reagieren, wenn er sie jetzt ansprach?
»Anja! Ich bin es, Paul. Erschreck nicht, ich...« Rein mechanisch
kamen diese Worte über seine Lippen.
Die junge Frau in dem Sessel erstarrte. Dann drehte sie ihren Kopf
langsam zur Seite und klare blaue Augen musterten den hochgewachsenen,
schlanken, jungen Mann.
Sie sahen sich, sie verstanden sich, es bedurfte nicht vieler
Worte zwischen ihnen.
»Paul?« Nur dieses eine Wort, das wie ein Tautropfen über ihre
feucht schimmernden Lippen rollte. Ein Wort, das alles sagte.
Sie konnte es nicht fassen. Zweifel stiegen in ihr auf. Anja
sagte, daß sie glaubte zu träumen. Aber Vernon gab ihr zu verstehen, daß dies
hier weder ein Traum noch ein makabrer Scherz Estrellos sei.
»Ich bin es wirklich«, flüsterte er.
»Aber wie hast du mich gefunden? Und wo kommst du her? Wieso bist
du...«
Fragen über Fragen!
Er beantwortete sie und erklärte ihr, wie es dazu gekommen war,
daß er sie entdeckt hatte.
So erfuhr sie von seinem Leben unter den Jivaros, das er seit
sieben Jahren dort führte.
Minuten vergingen in absolutem Schweigen. Sie standen eng
aneinandergepreßt beisammen, als wären sie ein Körper.
Tränen schimmerten in Anjas Augen. »Ich hätte immer bei dir
bleiben sollen. Es war ein Fehler gewesen, daß ich mich von dir trennte. Aber
das habe ich erst später erfahren.«
Vernons Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Wie ist das zu
verstehen, Anja: erst später erfahren?« Ein Verdacht stieg in ihm auf. Er hatte
es immer geahnt!
»...ich stand unter hypnotischem Einfluß. Estrello wußte genau,
daß ich mich anders entschieden hätte, wäre ich vollkommen frei gewesen. Er
legte einen Riegel vor. Unter Hypnose stehend gab ich dir damals zu verstehen,
daß mir ein Leben an der Seite Estrellos lieber sei als an deiner.«
»Du bist mit ihm - verheiratet?« Vernons Herzschlag stockte.
»Nein, ich bin seine Sklavin.«
»Ich verstehe das alles nicht.« Der Franzose ließ die junge Frau
los und wandte sein braungebranntes, wettergegerbtes Gesicht ab. »Wenn man dich
so auf der Bühne stehen sieht, erkennt man, wie glücklich du bist. Man spürt es
förmlich. Das ist keine Maske, die du zur Schau trägst.«
Anja nickte. »Ich weiß. Auch das geschieht unter Hypnose. Er hat
mich
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