012 - Der Schatten des Vampirs
wollten, waren Raubtieren zum Opfer gefallen oder von Alligatoren gefressen worden. Ganz zu schweigen von denen, die durch den Biss der giftigen Vogelspinne oder durch Skorpione getötet wurden, weil sie sich nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hatten.
Eine beliebte Zerstreuung waren die Raufereien, die die „Mama“ in Grenzen hielt, indem sie auf ganz bestimmten Spielregeln bestand. Meistens war nämlich ihr Lokal der Kampfplatz.
Und dann setzte der Regen ein, gewaltig, unaufhörlich. Da konnte man nicht mehr jagen oder im Fluss fischen. Man langweilte sich grenzenlos und sehnte die bessere Jahreszeit herbei. Concha tanzte jeden Abend, sie war ein Lebenselixier für die Arbeiter.
Sie und Santiago hatten gemeinsam beschlossen, noch ein Jahr hier zu bleiben. Santiago hatte eine gute Ernte hinter sich. Concha hatte ebenfalls bei der „Mama“ gut verdient. Die Alte war großzügig gewesen und hatte ihr sogar mehr bezahlt, als im Vertrag stand. Sie ließ sich Conchas Auftritte etwas kosten. Schließlich waren ihre Nummern die einzige Unterhaltung, die es im Umkreis von Hunderten von Kilometern gab. Die Seringueiros kamen von weither, um sie zu sehen. Es war ihr klar, dass dieses hübsche Mädchen für ihr Geschäft wichtiger war als alles andere. Die alten Radios in den Hütten konnten mit einer hübschen jungen Frau nicht konkurrieren. Wenn Concha mit ihren flirrenden, manchmal fast schamlosen Bewegungen den Fado tanzte, dann war die
Posada voll bis zum letzten Platz.
Die beiden Liebenden waren glücklich, sich wieder zuhaben. Mit ihrem Entschluss, noch hier zu bleiben, wollten sie ihre Startchancen in der Welt da draußen verbessern. Sie konnten ihr bisschen Vermögen vergrößern, um dann in irgendeiner Stadt an der Küste ein normales Leben anzufangen.
Concha träumte davon, an die Copa Cabana zu ziehen, weit weg von diesem mörderischen Dschungel, ohne Moskitos und Reptilien. Keine Hexerei sollte dann ihr Leben stören. Fieber gab es dort auch nicht. Es würde das reine Paradies sein!
Santiago sah sich in einem Austin oder Cadillac den weißen Strand entlangfahren. Er wollte leben, das Glück genießen.
Aber dafür musste man noch ein Jahr opfern, unter trostlosen Bedingungen arbeiten. Beide hatten sich dazu entschlossen. Sie hofften, wie man eben hofft, wenn man jung ist.
In der Pflanzung hatte sich jeder daran gewöhnt, immer wieder einem seltsamen Wesen zu begegnen, das nur noch ein Schatten seiner selbst und mit dem Menschen, den alle vor ein paar Wochen noch gekannt hatten, überhaupt nicht mehr zu vergleichen war.
Man nannte den Mann „El Dondo“, was soviel bedeutet wie „Der Narr“. Man fühlte zwar Mitleid mit ihm, aber auch eine gewisse Abneigung. Er war ein elendes Wesen, das sich mehr schleppte als ging. Man wusste, dass seine Beine voller Narben waren, Andenken an die mörderischen Piranhas. Sonst war nichts von Felipe übrig geblieben. Verlassen konnte er die Pflanzung nicht. Arbeiten mit den Seringueiros konnte er auch nicht mehr. Er war genau das geworden, was Santiago im Auge gehabt hatte, als er ihm das Leben schenkte: der Sklave des Paares. Er bediente die beiden.
Concha richtete kaum jemals das Wort an ihn. Sie vermochte in „El Dondo“ ihren früheren Geliebten nicht mehr zu erkennen. Santiago ließ ihn alle Dreckarbeit machen, und „El Dondo“ gehorchte. Dafür bekam er ein mageres Essen und ein Lager, das in einem Anbau neben der Hütte aufgeschüttet worden war.
Concha und Santiago wohnten nicht mehr in der Posada. Sie hatten die Hütte eines Seringueiros übernommen, der an einem Schlangenbiss gestorben war. So fühlten sie sich unabhängiger. Die „Mama“ hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Sie konnte das Zimmer immer an Neuankömmlinge oder Durchreisende vermieten. Ihr war nur wichtig, dass Concha noch ein Jahr blieb. Denn natürlich würde sie sich schwer tun, noch einmal eine so gute Tänzerin hierher in die Wildnis zu bekommen.
Das traurige Schicksal Felipes beschäftigte die anderen nicht weiter. Jeder dachte eigentlich, er habe nun, was er verdient habe. Die Mädchen bekreuzigten sich sogar, wenn sie ihm begegneten, denn sie hatten seine Zaubereien nicht vergessen. Alle fanden, dass Santiago durch sein Handeln weiteren Schaden verhütet habe. Er hatte also sogar der Gesellschaft einen Dienst erwiesen, als er Felipe den Denkzettel verpasste. Wer wagte es sonst schon, gegen Hexerei und dunkle Mächte aufzutreten?
Für Felipe war es gut, dass
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