012 - Der Schatten des Vampirs
sich gestellt.
Er ergriff ihn und trat ganz nah ans Ufer. Felipe sah die Riesenechse, hörte aber nicht auf zu stammeln, immer mit denselben Worten, immer im selben Rhythmus: „Das nicht, Santiago, das nicht!“
Die lange Schnauze des Krokodils schob sich durch das Wasser. Das hilflos ausgesetzte Opfer war eine unverhoffte Beute für die Bestie. Sie hatte ihr Versteck verlassen, als sie den Menschen witterte, und steuerte nun geradeswegs auf den Gefesselten zu.
Ein Schuss krachte, der Kaiman war ins Auge getroffen. Er überschlug sich im Wasser und bäumte sich auf.
Santiago war ein guter Schütze.
Er grinste, als er das Reptil, dessen Zuckungen schwächer wurden, im Wasser zappeln sah.
„Hast du gedacht, du könntest mir meinen Sklaven rauben?“ sagte er spöttisch.
Felipe schwieg jetzt. Er blickte abwechselnd auf Santiago, der den rauchenden Karabiner noch in der Hand hielt, und auf die Bestie, die von der Strömung in eine kleine Bucht abgetrieben wurde.
Santiago spuckte ins Wasser, ging wieder zu seinem Baum und zündete sich eine neue Zigarette an.
Aber ein Schreckensschrei riss ihn herum. Er stürzte ans Ufer zurück, um einen zweiten Kaiman zu erledigen.
Aber kein Reptil war zu sehen. Doch um Felipes Beine schien das Wasser plötzlich zu kochen. Der Gefangene stieß einen durchdringenden Schrei aus, und seine Stimme klang heiser vor Angst. Das Wasser färbte sich rot, und die Röte wurde von den Wellen des Flusses weiter getragen.
Nur einen Augenblick besann sich Santiago, dann handelte er. Er schoss einige Salven ins Wasser, wobei er darauf achtete,
Felipe nicht zu treffen. Das Brodeln hörte sofort auf. Er schlug mit einem dicken Ast ins Wasser, um sich zu überzeugen, dass die Gefahr vorüber war. Dann zog er seine Navaja, trat zu Felipe und schnitt die Fesseln auf. Er lud ihn auf seine Schulter und trug ihn, ohne ein Wort zu sagen, zum Ufer.
Felipes Beine waren blutig, das Fleisch war aufgerissen bis auf die Knochen.
Santiago ging zum Pferd, warf den fast ohnmächtigen Felipe über den Sattel, saß auf und ritt im Schritt zurück zur Pflanzung.
Nach zwei Stunden erreichte er die Posada, rief die „Mama“ heraus und warf ihr Felipe vor die Füße. Er sagte nur: „Der wird nie mehr davonlaufen können. Pflege ihn, dass er uns dienen kann. Da siehst du, was für ein gutmütiger Mensch ich bin!“
Die „Mama“ betrachtete Felipes Beine und brauchte nicht mehr zu fragen. Sie kannte diese grässlichen Verletzungen. So bissen nur die Piranhas zu, die Mordfische im Amazonas. Sie legte Kräuter auf die Wunden und salbte die zerfetzten Beine des Gefangenen, den eine gnädige Ohnmacht umfangen hielt.
Auch Santiago spürte plötzlich seine Wunde brennen. Er wandte sich ab und ging zu Concha.
Wochen waren vergangen seit dem Tag, da Felipe die Bruja aufgesucht und damit das Drama ausgelöst hatte.
Es war wieder Ruhe eingekehrt, obwohl niemand sagen konnte, ob es nicht nur die Ruhe vor einem neuen Sturm war.
Das Leben war weitergegangen, und die Seringueiros mussten sich ganz auf die Ernte konzentrieren, die vor der Regenzeit beendet sein musste. Sie hatten das Duell schon fast vergessen. Diejenigen unter ihnen, die genug Borachas gesammelt und gegen bares Geld getauscht hatten, hatten der Pflanzung schon den Rücken gekehrt. Sie mussten erst mit dem Einbaum zu einem Nebenfluss des Amazonas rudern, wo die kleinen Flussdampfer anlegten, und sie sangen laut, wenn sie ihre kleinen, wackligen Fahrzeuge bestiegen. Bald würden sie in Manaos sein, in Para, in Recife oder sogar in Rio. Dort würden sie das Leben in vollen Zügen genießen. Das Leben, das ihnen mit allen seinen Reizen winkte, nachdem sie der Grünen Hölle des Amazonas entronnen waren.
Das war es, was sich alle gewünscht hatten. Aber es gab immer einige, die zu krank waren, um die Rückreise anzutreten, wenn sie nicht das Fieber überhaupt dahingerafft hatte. Sie lebten nur weiter, um ihren Körper am Leben zu erhalten. Und wenn sie noch einmal davonkamen, dann fingen sie bei der nächsten Ernte wieder von vorn an. Oder nicht.
In der Posada schlugen sie ihre Zeit tot. Sie spielten, tranken und wurden ihr bisschen Geld an die armseligen Mädchen los, die es darauf abgesehen hatten. Mancher von ihnen wusste, dass er die nächste Regenzeit nicht mehr überstehen würde. Von Zeit zu Zeit blieb einer in seiner Hütte, lag tagelang fiebernd auf seinem Strohlager und wartete auf den Tod.
Andere, die den Dschungel erforschen
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