0120 - Die Stunde der Vampire
es gab kein Entkommen aus dem steinernen Gefängnis. Der einzige Zugang - der, auf dem sie alle zweiundvierzig in die Höhle gelangt waren - war das knapp meterbreite Loch in der Decke. Und wer es wagen sollte, sich durch dieses Loch einen Weg nach draußen zu bahnen, konnte sicher sein, von den oben lauernden Wächtern, um ein paar Beulen bereichert, wieder auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeschickt zu werden. Im wahrsten Sinne des Wortes…
»Warum?« fragte Gordon Wilford, der jetzt neben Nicole Duval und Langdon Croce in einer Ecke der Höhle niederkauerte. »Warum tun diese schwarzen Halunken es? Sollen wir alle elend verhungern?«
»Verhungern?« wiederholte Croce. »Davon kann gar keine Rede sein. Wir werden regelmäßig durch das Loch verpflegt. Nicht besonders gut, aber immerhin. Ich bin sicher, unsere Sklavenhalter essen auch nichts Besseres. Und warum sie uns gekidnappt und hier eingesperrt haben…«
»Ja?«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen!«
Im matten Schein der an einer Felswand angebrachten Fackel sah das längliche Gesicht des Journalisten hilf- und mutlos aus. Es unterschied sich damit kaum von den Mienen aller anderen Gefangenen.
Die meisten von ihnen waren bereits seit Tagen hier. Und keiner wußte, aus welchem Grund. Natürlich wurde spekuliert. Haiti war das Land des Voodookults, jener finsteren Naturreligion, deren Wurzeln im tiefsten Afrika lagen. Vermutungen, daß die Gefangenen als Opfer irgendeines blutrünstigen Rituals ausersehen waren, kamen deshalb nicht von ungefähr. Aber bisher deutete nichts auf eine solche Opferzeremonie hin. Die Ungewißheit zerrte vielleicht mehr an den Nerven der Gekidnappten als die Angst.
In dieser Nacht jedoch sollten die Gefangenen erfahren, was ihr Schicksal sein würde…
Es begann ganz plötzlich.
Auf einmal lag ein eigentümlicher Geruch in der Luft. Bisher hatte es nach Erde gerochen, nach Natur. Jetzt jedoch wurde die frische, unverbrauchte Luft, die niemals stickig gewesen war, von einer ganz penetranten Essenz geschwängert.
Nicole kräuselte die Nase, schnupperte wie ein junges Reh. »Pfui, was ist das denn?«
Alle waren mittlerweise aufmerksam geworden. Überall wurden die Gespräche unterbrochen. Man versuchte, die Natur des plötzlich allgegenwärtigen Gestanks zu ergründen.
»Schwefel ist es!« rief jemand. »Gar keine Frage: das ist Schwefel!«
Ja, es war Schwefel. Aber nicht allein. Es mischten sich noch andere Gerüche in den unsichtbaren Schwefelhauch, Gerüche, die ekelhaft und widerwärtig waren, Gerüche, die an Tod und Verwesung denken ließen.
Die Höhle war nicht sehr groß, mochte einen Durchmesser von vielleicht zweihundert Metern haben. Es bereitete also keine Schwierigkeiten, sie in Sekundenschnelle abzusuchen. Es kam jedoch nichts dabei heraus. Die Ursprungsquelle der Pestilenz wurde nicht entdeckt. Der Gestank schien von überall und nirgends zu kommen.
Dann war da auf einmal, etwa im Zentrum des Felsenrunds, ein unheimliches Flimmern in der Luft. Die Moleküle schienen zu kochen, schienen zu dampfen, so, als ob dort unsichtbares Wasser den Siedepunkt überschritten hatte. Gebannt starrten die Eingeschlossenen auf das rätselhafte Phänomen.
Nicole stieß einen unterdrückten Laut aus.
»Mister Croce«, flüsterte sie.
»Ja, Miß Duval?«
»Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?«
»Glaube schon«, sagte der Journalist. »In diesem Loch hier scheint die Zeit zwar stillzustehen, aber ich habe die Übersicht noch nicht ganz verloren. Freitag ist heute.«
»Freitagnacht, ja!« Nicole hauchte es beinahe.
»Was meinen…?« Longdon Croce stockte, holte tief Luft. »Großer Gott, daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht! Die Nacht vom Freitag zum Samstag!«
»Die Nacht der Vampire!«
Gordon Wilford, der junge Engländer, der nach Haiti gekommen war, um den Voodookult als faulen Zauber zu entlarven, hatte den leisen Dialog der beiden mitbekommen.
»Die Nacht der Vampire?« echote er. »Was reden Sie da eigentlich?«
Nicole und Croce hatten bisher mit ihren Leidensgenossen noch nicht über den befürchteten Vampirspuk gesprochen. Einmal, weil sie die Gefangenen nicht zusätzlich beunruhigen wollten. Zum anderen aber auch, weil ihre Entführung die Gedanken an die Unholde aus der jenseitigen Welt in ihrem eigenen Bewußtsein in den Hintergrund abgedrängt hatte. Jetzt aber schien der Zeitpunkt gekommen zu sein, an dem sie einige schreckliche Wahrheiten preisgeben mußten.
Das dampfartige, neblige
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