013 - Der Mann, der alles wußte
aufgeregt. Man dürfte Miss Nuttall eigentlich überhaupt nicht aus den Augen lassen. Ich will sehen, ob es mir gelingt, mit ihrer Zofe zu sprechen, damit wir wenigstens erfahren, wann sie ausgeht. Wir müßten einen Mann vor dem Savoy postieren, der ihr überallhin folgt.«
Als sie sich getrennt hatten, gab Mr. Mann die nötigen telefonischen Anordnungen. Wie wichtig und notwendig das war, zeigte sich noch am selben Abend.
Um neun Uhr ging May in den Speisesaal und nahm an einem einzelnstehenden Tisch Platz. Einen Augenblick später wurde ihr ein Telegramm überreicht. Es kam von einer Vorstandsdame der Wohltätigkeitsgesellschaft, für die sich May in jeder Weise einsetzte. Der Text war nur kurz:
Dringend. Habe Ihnen sehr Wichtiges mitzuteilen.
May stand sofort auf, ohne gegessen zu haben, ging in ihr Zimmer, kleidete sich um und fuhr in einem Taxi nach London Ost.
Als sie an dem Haus ankam, in dem die Direktion der Gesellschaft ihre Räume hatte, und in die Halle trat, brannte kein Licht. Ein Herr, der offenbar neu eingestellt war, wartete dort auf sie und sprach sie an.
»Sie sind Miss Nuttall? Ich dachte es mir gleich, als ich Sie sah. Die Dame, die Ihnen telegrafiert hat, ist nach Silvers Rents gefahren und hat mich gebeten, Sie dorthin zu begleiten.«
May entlohnte den Chauffeur und ging mit dem anderen Herrn die engen Straßen entlang. Sie befanden sich gerade mitten in einer der schlechtbeleuchteten Gassen, als sie einen großen, schönen Wagen entdeckte. Sie wunderte sich, daß ein solches Luxusauto in diese Gegend gekommen war. Als sie in den Lichtkreis der Scheinwerfer trat, hob sie die Hand, um die Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Im gleichen Augenblick packte sie jemand von hinten und hielt ihre Arme fest. Man warf einen Schal über ihren Kopf und stieß sie in das Innere des Wagens, wo eine Hand nach ihrer Kehle faßte.
»Wenn Sie schreien, erwürge ich Sie sofort!« zischte eine Stimme in ihr Ohr.
Der Wagen fuhr an, und May unterdrückte jeden Schrei. Sie sank halb ohnmächtig in die Polster zurück.
Als sie wieder ganz zu sich kam, fuhr der Wagen noch immer durch die Dunkelheit, und sie fühlte wieder die Hand an ihrer Kehle.
»Wenn Sie vernünftig sind und alles tun, was man Ihnen sagt, passiert Ihnen nichts«, sagte eine undeutliche Stimme.
Es war so dunkel, daß sie das Gesicht ihres Begleiters nicht sehen konnte. Das war auch gleichgültig, denn am Klang seiner Stimme hörte sie, daß es hinter einem Tuch oder einer Maske verborgen sein mußte. Nun erinnerte sie sich auch daran, daß sich der Mann vorher immer ängstlich im Schatten gehalten hatte.
»Wohin bringen Sie mich?« fragte sie.
»Das werden Sie schon noch sehen«, lautete die nichtssagende Antwort.
Es war ein stürmischer Abend. Der Regen peitschte gegen die Fenster des Wagens, und der Wind heulte. Allem Anschein nach fuhren sie aufs Land hinaus, denn sie konnte im Schein der Lampen ab und zu Hecken und Bäume erkennen, an denen sie vorüberjagten. Der Mann neben ihr ließ plötzlich eines der Fenster herunter, lehnte sich aus dem Wagen und gab dem Chauffeur einige Anordnungen. Sie ahnte, was er gesagt hatte, denn die hellen Lichter wurden plötzlich abgedreht, und sie fuhren im Dunkeln.
Obwohl sich May äußerlich zur Ruhe zwang, war sie von wildem Entsetzen gepackt. Sie ahnte, daß dieser Mann auch nicht vor einem Mord zurückschrecken würde, wenn dies in seiner oder in der Absicht seiner Auftraggeber lag. Jedenfalls schwebte sie in großer Gefahr. Aber warum hatte man sie entführt? Waren dieselben Leute an der Arbeit, die John Minute ermordet hatten?
»Wer sind Sie?« fragte sie.
»Das werden Sie bald genug erfahren.«
Im nächsten Augenblick hörten sie ein fürchterliches Krachen. Der Wagen kam plötzlich zum Stehen und neigte sich auf die Seite. May wurde vom Sitz geschleudert und fiel auf die Knie. Alle Glasscheiben waren zersplittert. Zweifellos mußte der Wagen stark beschädigt sein. Der Mann an ihrer Seite richtete sich auf, stieß die Tür auf und sprang hinaus.
»Wir sind in die Schranke eines Eisenbahnübergangs hineingefahren«, schrie der Chauffeur. »Ich habe mein Handgelenk gebrochen. Das haben wir nun davon, daß ich die Lichter abdrehen mußte!«
May hatte instinktiv nach der Klinke der entgegengesetzten Tür getastet, die sich zu ihrer größten Freude öffnete. Behutsam kletterte sie auf die Straße, aber sie zitterte an allen Gliedern.
Sie ahnte die Schranke mehr, als sie sie sehen
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