0132 - Der Schwarze Graf
Umgebung war nichts zu sehen, denn die Sicht hatte sich zunehmend verschlechtert. Das Tageslicht wurde durch vorbeihuschende Wolkenfetzen fast total verschluckt. Kurz vor der Paßhöhe bog Zamorra auf eine kleine Nebenstraße ab, die den Weg zwar erheblich verkürzte, dafür aber bei den herrschenden Sichtverhältnissen risikoreicher war. Während der Wagen sich das beängstigend steil in die Höhe schlängelnde Pflaster hinaufquälte, befaßte sich Nicole in Gedanken weiter mit Zamorra und dessen Problemen. Sie hatte ihn nur selten in einer so deprimierten Stimmung erlebt, aber das war ja auch kein Wunder.
Erst der Vorfall mit dem Amulett, das seine Kräfte praktisch gegen ihn gelenkt hatte, obwohl er es sonst völlig beherrschte - bisher jedenfalls. Und jetzt kam noch dieses Gefühl, Spielball übermächtiger Kräfte zu sein, hinzu. Was konnte sich bloß hinter der Sache verbergen? Das Amulett ließ Zamorra offenbar erneut im Stich. Doch in diesem Gedanken sollte Nicole sich gewaltig täuschen…
Plötzlich spürte Zamorra trotz seines Verbandes ein heftiges Prickeln auf der Brust - das Amulett! Seine Gesichtszüge verhärteten sich, wirkten wie aus Stein gemeißelt.
Die Aura des Bösen trat so gewaltsam, so unvermittelt auf, wie er es selten erlebt hatte.
»Halt dich fest, Nicole!«
Blitzartig trat Zamorra die Bremsen hart durch. Mit kreischenden Reifen kam der Wagen zum Stehen.
»Raus hier, schnell!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Nicole reagierte sofort. Mit einer fast anmutig wirkenden Bewegung löste sie ihren Sicherheitsgurt, während sie mit der anderen Hand bereits die Tür aufstieß. Mit einem eleganten Satz war sie draußen, als sie schon den harten Griff Zamorras um ihre schmalen Hüften spürte. Er zerrte sie in panischer Hast die Straße herunter. Hoch über ihren Köpfen, irgendwo im oberen Teil der schier endlos aufragenden Felswand, an die sich die kleine Nebenstraße eng anschmiegte, war im dichten, undurchdringlichen Gewölk ein scharfes Krachen und Bersten zu hören, das gespenstisch von den Bergen ringsum widerhallte.
Das Geräusch verstärkte sich, wurde zu einem grollenden, atemberaubenden Donner, der aus den tiefsten Tiefen der Erde zu kommen schien und alles erzittern ließ.
Zamorra riß Nicole verzweifelt mit sich fort.
Weg! Nur weg vom Wagen! hämmerte es in seinem Kopf. Der Boden unter ihren Füßen begann so stark zu beben, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Hundert Meter hinter ihnen wälzte sich ein tödliches Verhängnis den Berg herunter, das sich durch keine Macht der Welt aufhalten ließ…
»Runter, Nicole! Auf den Boden, schnell!« brüllte Zamorra aus Leibeskräften.
Mit Erleichterung sah er noch, daß Nicole ihn trotz des ohrenbetäubenden Lärms offenbar verstanden hatte.
Sie reagierte sofort - und keine Sekunde zu früh, denn im gleichen Augenblick öffneten sich rumorend die Pforten der Hölle.
Heulend fegte die enorme Druckwelle einen eisigen Sturm über sie hinweg. Die dichten Nebelschwaden wurden brüllend auseinandergerissen. Schwere Fels- und Eisbrocken polterten dumpf in grotesken, meterlangen Sprüngen die Straße entlang.
Zu seinem Entsetzen bemerkte Zamorra, wie unmittelbar neben ihm solche Dinger mit ungeheurer Wucht auf das Pflaster schmetterten. Instinktiv verkrampfte sich sein Körper. Schützend hielt er die Hände über den Kopf. Sein Herz schlug rasend schnell, während die Bruchstücke wie Granatensplitter um ihn herumschwirrten. Jede Sekunde wurde zur Qual, und die entfesselten Naturgewalten schienen eine Ewigkeit toben zu wollen, denn das Jaulen und Fauchen der wütenden Luftmassen nahm kein Ende.
Dann, ganz plötzlich, trat Totenstille ein. Nach diesem Miniatur-Weltuntergang erschien sie fast unwirklich. Auch die heftige, bedrohliche Aura des Bösen war verschwunden.
Zamorra schüttelte benommen den Kopf. Ihm schmerzte jeder Knochen im Leib. Schwerfällig erhob er sich und wankte auf die Stelle zu, an der Nicole liegen mußte.
Sie rührte sich nicht.
»Nicole!«
Keine Reaktion.
»Nicole, mein Gott!« Alle Schmerzen waren vergessen.
Zamorra stürzte hinüber zum regungslos daliegenden Mädchen, dessen Körper von einer dicken Schicht aus Eis- und Gesteinssplittern bedeckt war.
Eine unendliche Woge der Erleichterung überkam ihn, als er bemerkte, daß Nicole ihn anblinzelte.
»Zamorra! Auch davongekommen…«
Behutsam hob er seine zierliche Freundin auf. Bis auf ein paar harmlose Kratzer hatte sie
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