0139 - 200 Minuten um Leben und Tod
Gesichtsfehler, Körperfehler, Arm- oder Beinfehler, so dauerte es kaum zwei Minuten, bis wir die infrage kommenden Verbrecher vor uns hatten, die irgendetwas mit dem linken Bein hatten.
Wir legten dem Alten die Karten vor.
Er brauchte nur ein paar Augenblicke, und schon hatte er eine Karte gefunden, die seine besondere Aufmerksamkeit erregte. Es war die vierte oder fünfte aus dem kleinen Stapel, den wir ihm gegeben hatten. Er besah sich die Karte genauer, sah hoch zu uns und sagte: »Das ist er!«
Ich blickte auf die Karte. Sie zeigte ein verschlagenes Spitzmausgesicht. In der Rubrik für seinen Namen stand: Guck Holmes, genannt die ›Ratte‹.
Mein Blick tastete über die Karte und suchte die Spalte mit der derzeitigen Wohnung. Schon erwartete ich, die übliche Notiz ›Aufenthaltsort unbekannt‹ vorzufinden, als ich in der betreffenden Spalte fand:
Wohnhaft 188, East 125 th Street.
***
Die Ratte wohnte im sechsten Stock eines Mietshauses. Hier oben gab es ein paar ausgebaute Mansarden, und eine davon schien Holmes’ Domizil zu sein.
Ein Hausbewohner hatte mir die ungefähre Lage der Mansarde beschrieben. Ich ging mit deutlich hörbaren Schritten bis in die fünfte Etage, und von da an trat ich nur mit den Zehenspitzen auf und bemühte mich um Geräuschlosigkeit.
Die Treppe endete im sechsten Stockwerk auf einer Art Flur. Er war wesentlich breiter als in den unteren Etagen, weil hier die Wände mehr zur Außenwand gerückt standen. Der einzige Lichtschein, den es gab, kam von einem knapp zwei Fuß hohen Fenster, und das lag eine halbe Etage tiefer im Treppenhaus. Also herrschte hier oben eine Finsternis, die man kaum durchdringen konnte.
Ich blieb am Ende der Treppe erst einmal stehen und lauschte.
Totenstille herrschte, wenn man von einem leisen Knistern in der Wand absah, und das kam von einer Maus.
Nachdem sich meine Augen ein wenig an die Finsternis gewöhnt hatten, sah ich mehrere dunkle Stellen an den vier Wänden der Etage. Es mussten die Türen der Mansarden sein.
»Die zweite links«, hatte der Hausbewohner unten im Erdgeschoss gesagt.
Ich trat einen Schritt vor.
Die Diele knarrte, aber nur ein kleines bisschen, sodass ich noch die Hoffnung haben durfte, die Ratte könnte es vielleicht nicht gehört haben.
Ich arbeitete mich dicht an der Wand entlang auf die Tür zu. Je näher man an der Wand ist, umso geringer ist die Gefahr, dass die Dielen knacken.
Vielleicht wundern Sie sich über meine Vorsicht. Aber erstens wollte ich die Ratte überraschen, zweitens war ich allein, drittens ist ein Mörder in der Regel ein Mann, der es mit Menschenleben nicht mehr genau nimmt. Und ich fühlte mich keineswegs nach Sterben.
Endlich hatte ich die zweite Tür erreicht. Ich lauschte.
Noch immer war kein Geräusch zu hören. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass die Ratte nicht zu Hause war. Aber irgendwie glaubte ich nicht daran. Mein Gefühl oder Instinkt, oder wie Sie’s nennen wollen, also irgendetwas in meinem Unterbewusstsein warnte mich.
Dann riss ich die Tür auf und sprang in den Raum.
Leer. Kein Mensch zu sehen. Ein zerwühltes Bett, herumliegende Zigarettenstummel, abgebrannte Streichhölzer und zwei leere Kisten - das war die ganze Einrichtung.
Ich war sehr irritiert. Mein Instinkt trügt mich fast nie. Und er hatte mir Gefahr angezeigt.
Enttäuscht steckte ich meine Pistole zurück ins Schulterhalfter.
Gerade als ich die Hand wieder aus dem Jackenausschnitt herausgezogen hatte, da drückte mir einer seine Pistolenmündung in den Rücken, und eine triumphierende Stimme geiferte: »Pfoten hoch, aber ein bisschen schnell!«
Die Ratte hatte mich überlistet.
***
Roy Baxter musterte das Mädchen unter halb gesenkten Lidern.
»Sagen Sie mal, Miss Leaven«, murmelte er, »finden Sie es nicht selbst ein bisschen eigenartig, dass Sie ohne Mantel bei diesem Wetter in einem Park herumlaufen? Und über die Rasenflächen?«
Daisy Leaven lachte.
»Ich wusste sofort, dass so etwas kommen würde«, sagte sie schulterzuckend. »Polizisten müssen wohl so sein. Also schön: Ich sagte Ihnen schon, dass ich Reporterin bin, nicht wahr? Jetzt stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Unser Bildredakteur hat den Schnupfen und ist zu Hause geblieben, um nicht den ganzen Betrieb anzustecken. Können Sie folgen?«
Ihre Stimme klang ein wenig aggressiv. Trotzdem blieb Roy Baxter völlig ruhig und sagte mit freundlicher Ironie: »Ich gebe mir jedenfalls alle Mühe. Also, der Bildredakteur ist zu
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