014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
meine Kiste öffnen.«
Es entstand eine lange Pause, die peinlich genug für Tarling war, denn durch seine Nachlässigkeit hatte Ling Chu die Durchsuchung seines Eigentums entdeckt.
»Ich dachte, ich hätte sie wieder so zurückgelegt, wie ich sie herausgenommen hatte.« Tarling wußte sehr wohl, daß er durch Leugnen nichts gewinnen würde. »Nun sage mir, Ling Chu, stimmt das alles, was ich in den Ausschnitten gelesen habe?«
»Ja, Herr, es ist wahr. Die kleine Narzisse, oder wie sie die Fremden nannten, die kleine gelbe Narzisse, war meine Schwester. Sie wurde gegen meinen Willen Tanzmädchen in einem Teehaus, denn unsere Eltern waren tot. Sie war ein gutes Mädchen, Herr, und sie war so schön wie eine Mandelblüte. Chinesinnen sind meistens nicht schön in den Augen der Fremden, aber die kleine Narzisse war wie eine Figur aus Porzellan, und sie hatte die Tugenden von tausend Jahren.«
»Sie war ein gutes Mädchen?« wiederholte Tarling und sprach diesmal chinesisch. Er wählte Worte von besonderer Bedeutung, die das Andenken der Toten ehrten.
»Sie lebte gut und starb gut«, sagte der Chinese ruhig. »Die Worte eines Engländers beleidigten sie. Er gab ihr viele böse Namen, weil sie nicht zu ihm kommen und sich auf seine Knie setzen wollte. Und obgleich er ihr die Schande antat, sie vor den Augen anderer Männer zu umarmen, war sie doch gut und starb in allen Ehren.«
Wieder trat ein tiefes Schweigen ein.
»Das verstehe ich«, sagte Tarling ruhig. »Hast du erwartet, als du mir erklärtest, du würdest mich nach England begleiten, diesen bösen Engländer wiederzutreffen?«
Ling Chu schüttelte den Kopf.
»Nein, das hatte ich mir aus dem Sinn geschlagen, bis ich ihn neulich in dem Warenhaus wiedersah. Dann kamen die schlimmen Gedanken plötzlich wieder, und der Haß schlug in hellen Flammen auf, den ich doch ganz überwunden glaubte.« Er hielt inne.
»Und du hast seinen Tod gewünscht?«
Ling Chu beantwortete die Frage nur durch kurzes Nicken.
»Du mußt mir alles sagen, Ling Chu.«
Der Chinese ging nun ruhelos in dem Zimmer auf und ab, seine Erregung sprach aus den Bewegungen seiner Hände.
»Ich hatte die kleine Narzisse sehr lieb und hoffte, daß sie sich bald verheiraten und Kinder haben würde. Ihr Name würde dann nach dem Glauben meines Volkes gesegnet sein. Denn sagte nicht der große Meister Konfuzius: ›Was mag verehrungswürdiger sein als die Mutter von Kindern?‹ Und als sie starb, Meister, fühlte ich, daß mein Herz leer war in mir, denn es war keine andere Liebe in meinem Leben. Aber dann wurde der Ho-Sing-Mord begangen, und ich reiste ins Innere des Landes, um Lu Fang festzunehmen. Und diese Tätigkeit half mir, meinen Schmerz zu vergessen. Und ich hatte vergessen, bis ich ihn wiedersah. Aber dann kam die alte Trauer wieder in mein Herz, und ich ging aus -«
»Um ihn zu töten.«
»Ja, um ihn zu töten«, wiederholte Ling Chu.
»Sage mir nun alles.« Tarling atmete tief.
»Es war an jenem Abend, als der Herr zu der kleinen jungen Frau ging. Ich war fest entschlossen auszugehen, konnte aber keinen Vorwand dafür finden, denn du hattest mir den strengen Befehl gegeben, daß ich deine Wohnung in deiner Abwesenheit nicht verlassen sollte. Deshalb fragte ich, ob ich dich nicht begleiten dürfte. Ich hatte die Schnellschnell-Pistole in meine Manteltasche gesteckt, nachdem ich sie vorher geladen hatte. Herr, du gabst mir den Auftrag, dir zu folgen, aber als ich sah, daß du deinen Weg begonnen hattest, verließ ich deine Spur und ging zu dem großen Geschäft.«
Tarling sagte überrascht: »Lyne wohnt doch nicht in dem Haus?«
»Das habe ich dann auch entdeckt«, erklärte Ling Chu einfach. »Ich dachte aber, daß er sich in einem so großen Haus selbst eine schöne Wohnung eingerichtet hätte. In China wohnen die Eigentümer der großen Firmen gewöhnlich in ihrem Geschäftshaus. Deshalb ging ich dorthin, um es zu durchsuchen.«
»Wie bist du denn hineingekommen?« fragte Tarling überrascht.
Wieder lächelte Ling Chu.
»Das war sehr leicht. Der Herr weiß ja, wie gut ich klettern kann. Ich fand eine lange eiserne Regenröhre, die bis zu dem Dach hinaufführte. Zwei Seiten des Geschäftshauses liegen an großen Straßen, die dritte grenzt an eine schmälere Straße, und die vierte öffnet sich auf eine kleine Gasse, in der nur wenige Lichter brannten. Dort bin ich hochgeklettert. Auf dem Dach entdeckte ich viele Fenster und Türen, und für einen Mann wie mich bestand keine
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