014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
Milburgh spielt jetzt seinen letzten Trumpf aus, er gesteht seine ganze Schuld und steuert auf die Lösung zu, die er seit langer Zeit vorbereitet hat. Lyne lehnt ab, es entsteht ein Streit zwischen den beiden, und in seiner Verzweiflung erschießt Milburgh den anderen.«
Tarling schüttelte den Kopf und lächelte eine Weile vergnügt vor sich hin.
»Ja, die ganze Geschichte gibt uns viele Rätsel auf«, sagte er dann.
Die Tür öffnete sich, und ein Polizeibeamter trat ein. »Hier sind alle Einzelheiten, die Sie wünschten.« Er wandte sich an Whiteside und überreichte ihm ein maschinebeschriebenes Blatt.
»Ach, sehen Sie, hier haben wir alle Details über unseren Freund Sam Stay«, sagte Whiteside, als der Beamte den Raum verlassen hatte. Er las halblaut vor sich hin. »Größe ein Meter zweiundsechzig, blasse Hautfarbe . . . trägt einen grauen Anzug und Unterzeug mit dem Stempel der Landesirrenanstalt. . . Hallo!«
»Was ist los?« fragte Tarling.
»Das ist wichtig.« Der Inspektor las weiter: »Als der Patient ausbrach, hatte er keine Schuhe. Er hat einen außergewöhnlich kleinen Fuß. Außerdem fehlt ein großes Küchenmesser. Es ist auch möglich, daß der Mann bewaffnet ist. Alle Schuhmacher sollten benachrichtigt werden . . .«
»Sam Stay war barfuß, als er ausbrach?« Tarling stand vom Tisch auf und runzelte die Stirn. »Sam Stay haßte Odette Rider.«
Die beiden sahen sich an.
»Sehen Sie nun, wer Mrs. Rider umgebracht hat?« fragte Tarling. »Sie wurde von einem Menschen getötet, der sah, wie Odette Rider ins Haus ging, und der vergeblich darauf wartete, daß sie wieder herauskam. Er schlich ihr nach, um, wie er sich einbildete, seinen toten Wohltäter an ihr zu rächen. Und dann tötete er diese unglückliche Frau. Jetzt erklären sich auch die Buchstaben M. C. A. auf dem Griff des Messers. Sie bedeuten Middlesex County-Asylum. Er hat das Messer bei sich gehabt. Als er seinen Irrtum einsah, suchte er nach ein Paar Schuhen für seine blutenden Füße, und als es ihm nicht mehr gelang, auf einem anderen Weg wieder in das Haus zu kommen, ging er um das Gebäude herum, um zu sehen, ob er nicht durch irgendein Fenster hineingelangen konnte, um Odette Rider zu finden.«
Whiteside sah ihn erstaunt an.
»Schade, daß Sie ein so großes Vermögen geerbt haben«, sagte er bewundernd. »Wenn Sie sich zurückziehen, wird unser Vaterland um einen großen Detektiv ärmer werden.«
31
»Ich habe Sie bestimmt schon irgendwo gesehen?« Der stattliche Geistliche mit der tadellos weißen Halskrause beugte sich liebenswürdig zu dem Mann hinab, der ihn fragte, und schüttelte dann mit einem freundlichen Lächeln den Kopf.
»Nein, mein lieber Freund, ich kann mich durchaus nicht besinnen, Ihnen jemals begegnet zu sein.«
Es war ein kleiner Mann mit einem abgetragenen Anzug, der ungewöhnlich blaß und krank aussah. Sein Gesicht war mager und von vielen Furchen durchzogen. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert, und die vielen kleinen Bartstoppeln gaben ihm ein düsteres Aussehen.
Der Geistliche hatte gerade Temple Gardens verlassen, als ihn der andere ansprach. Er sah als Pastor wohlwollend aus und trug einen großen Band unter dem Arm.
»Ich habe Sie aber doch schon gesehen«, sagte der kleine Mann beharrlich. »Ich habe Sie sogar im Traum gesehen.«
»Wollen Sie mich jetzt bitte entschuldigen«, erwiderte der Geistliche. »Ich kann mich nicht länger mit Ihnen aufhalten. Ich habe eine wichtige Verabredung.«
»Warten Sie, ich muß mit Ihnen sprechen«, rief der unscheinbare Mann so heftig, daß der andere stehenblieb. »Ich sage doch, daß ich von Ihnen geträumt habe, ich habe gesehen, daß Sie mit vier nackten schwarzen Teufeln tanzten. Und sie sahen alle fett und häßlich aus.«
Er hatte die letzten Worte leise gesprochen, aber mit einer eindringlichen, monotonen Stimme.
Der Geistliche trat erschrocken einen Schritt zurück. »Mein lieber Mann«, sagte er ernst. »Sie können nicht andere Leute auf der Straße anhalten, um ihnen derartigen Unsinn zu erzählen. Ich habe Sie früher nie getroffen. Mein Name ist Reverend Josiah Jennings.«
»Sie sind Milburgh, ganz bestimmt, jetzt weiß ich es. Er hat oft von Ihnen gesprochen, dieser wunderbare Mann. Hören Sie doch zu!« Er faßte den Geistlichen am Ärmel, und Milburgh - er war es wirklich - wurde blaß, denn der andere hatte ihn wütend gepackt und sprach nun leidenschaftlich und wild. »Wissen Sie, wo er jetzt ist? Er liegt in einem
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