014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
krampfhaft.
»Ich dachte, ich hätte sie in der vorigen Nacht erwischt«, begann er, plötzlich aber hielt er inne.
Milburgh wußte nicht, worauf sich seine Worte bezogen, denn er hatte an diesem Tag noch keine Zeitung gelesen.
»Hören Sie mal«, fuhr Sam fort. »Haben Sie jemals eine Person in Ihrem Leben wirklich liebgehabt?«
Milburgh schwieg. Odette Rider bedeutete ihm nichts. Aber ihrer Mutter war er unendlich zugetan.
»O ja, ich glaube, daß ich jemand sehr liebe«, sagte er nach einer Pause. »Aber warum fragen Sie mich danach?«
»Nun, dann können Sie verstehen, wie ich fühle«, sagte Sam Stay heiser. »Dann wissen Sie, warum ich die Person kriegen muß, die ihn unter die Erde gebracht hat. Sie hat ihm aufgelauert, ihn verleumdet, ach, mein Gott -«
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und schwankte.
Milburgh schaute sich verzweifelt um. Aber plötzlich kam ihm ein Gedanke. Es war niemand in der Nähe.
Odette war die Hauptzeugin gegen ihn, und dieser Mann haßte sie bis auf den Tod. Er liebte Odette nicht -sie war die einzige Zeugin, die in einem Prozeß gegen ihn auftreten konnte, nachdem er seine Schuldbeweise vernichtet hatte. Wie konnte man ihn anklagen, wenn Odette nicht gegen ihn aussagte?
Er überlegte die Sache kaltblütig, wie ein Kaufmann irgendein Geschäft abwägt. Er hatte erfahren, daß Odette in einem Krankenhaus in London lag, er wußte allerdings nicht, welche traurigen Ereignisse sie dorthin gebracht hatten.
Er hatte am Morgen bei der Firma angerufen, um herauszubringen, ob man Nachforschungen nach ihm angestellt hätte. Dabei hatte er gehört, daß mehrere Kleidungsstücke für Odette nach dem Krankenhaus geschickt worden waren, und so hatte er die Adresse erfahren. Er hatte sich zwar gewundert, daß sie zusammengebrochen war, aber er hatte sich das mit den vielen Aufregungen erklärt, die sie in der letzten Zeit, besonders in der vorigen Nacht in Hertford, gehabt hatte.
»Wenn Sie nun Miss Rider treffen würden, was würden Sie dann tun?«
Sam Stay zeigte grinsend die Zähne.
»Sie werden sie in der nächsten Zeit wohl nicht zu sehen bekommen, denn sie liegt in einem Krankenhaus, Cavendish Place 304.«
»Cavendish Place 304«, wiederholte Sam. »Das ist doch in der Nähe der Regent Street, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht genau«, sagte Milburgh. »Sie liegt dort in einem Krankenhaus, und Sie werden sie wahrscheinlich nicht zu sehen bekommen.«
Milburgh stand auf. Er sah, daß der Mann zitterte. »Cavendish Place 304«, sagte er noch einmal, dann kehrte er Mr. Milburgh den Rücken und entfernte sich.
Der würdige Geistliche schaute ihm nach, schüttelte den Kopf, erhob sich und ging in der anderen Richtung davon. Er überlegte, daß es ebenso leicht war, am Waterloo-Bahnhof eine Fahrkarte nach dem Festlande zu lösen wie in Charing Cross.
32
Tarling hätte schlafen sollen. Alle Knochen und Muskeln schmerzten ihn, und er brauchte dringend Ruhe. Aber er saß in seiner Wohnung am Tisch, vor ihm lagen Lynes Tagebücher in zwei Haufen. Er hatte nur noch wenige Bände zu prüfen.
Die Hefte waren ohne Vordruck und Linien. Manchmal reichte ein Buch über zwei oder drei Jahre. Manchmal enthielt es nur die Periode von einigen Monaten. Schließlich war nur noch ein Buch übrig, das sich von den anderen dadurch unterschied, daß es durch zwei Bronzeschlösser verschlossen war, die aber von Fachleuten in Scotland Yard geöffnet worden waren.
Tarhng nahm diesen Band und wandte Seite für Seite um. Wie er richtig vermutet hatte, war es das letzte der Bücher, in das Thorton Lyne bis zu seiner Ermordung Eintragungen gemacht hatte. Tarling öffnete es, ohne viel davon zu erwarten. Auch in den früheren Bänden hatte er außer unglaublicher Selbstüberhebung nichts gefunden. Er hatte Lynes Berichte über seinen Aufenthalt in Schanghai gelesen, aber das war nichts Neues für ihn gewesen.
Obwohl er auch von diesem letzten Tagebuch nicht viel erwartete, las er es doch aufmerksam durch. Plötzlich nahm er einen Notizblock und begann Auszüge zu machen. Es war der Bericht über den Antrag, den er Odette Rider gemacht und den sie zurückgewiesen hatte. Er war sehr subjektiv und schönfärberisch, aber sonderbar uninteressant geschildert. Dann kam er zu der Stelle, die einen Tag nach der Entlassung Sam Stays aus dem Gefängnis geschrieben war. Hier sprach sich Thorton Lyne eingehender über seine ›Demütigung‹ aus.
Stay ist aus dem Gefängnis entlassen. Es ist ergreifend, wie
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