015 - Das Blutmal
Veit, wir wären nicht die ersten. Und ich nicht die erste Frau, die mit dem Geliebten auch die Illusionen verlöre.«
Anna fiel auf die Couch.
Veit zog ihr die Schuhe von den Füßen und streichelte ihr unter riesiger Selbstüberwindung über das nasse Haar.
»Du irrst«, sagte er schwach. »Du solltest die nassen Klamotten ausziehen.«
Er band ihr vom Regen dunkles Halstuch ab und verhielt plötzlich mitten in der Bewegung. Sein Mund formte lautlose Worte. Schweiß bedeckte seinen Körper, und seine Augen wollten das Furchtbare nicht registrieren: Um Annas Hals war wieder der feine rote Strich.
Vorsichtig tastete Veits Hand über ihren Hals und schaudernd stellte er fest, dass es nicht die Korallenkette war. Keuchend wich er zur Tür zurück.
»Wo warst du? Bei wem?« kreischte er.
Anna öffnete ihre Katzenaugen wie in Trance und sah durch ihn hindurch.
Völlig von Sinnen stürzte er sich auf sie, riss sie hoch.
»Wo du warst, will ich wissen?« schrie er. »Wen hast du jetzt umgebracht, du verdammte Hexe?«
Seine Hand holte zum Schlag aus und fiel kraftlos herunter, als sie ihn unsagbar mitleidig ansah.
»Du Narr!« sagte sie. »Du unglücklicher Narr!«
»Hast du niemand besucht?«
Veit drehte den Kopf zum Fenster, um dem Bann ihres Blickes zu entfliehen.
»Doch!« kam die Antwort. »Deinen lieben neuen Vertrauten.«
»Und wer ist das, wenn ich fragen darf?«
Anna lachte höhnisch. »Du bist ein miserabler Schauspieler, mein Schatz. Mit Idusch wolltest du doch ein Komplott schmieden. Ich durchschaue dich. Gestern bin ich dir nachgefahren. Du warst wieder bei ihm.« Sie kam hoch. »Du bist verrückt, nicht ich. Ich will dir helfen, deshalb ging ich heute Morgen zu ihm. aber er …«
»Bei Idusch?« Veit erkannte seine Stimme nicht wieder.
Er kniete sich hin und wählte mit zittriger Hand die Nummer des Professors.
Nach längerem Warten atmete er auf. Kein Zweifel, das war die Stimme von Professor Idusch.
»Ja, was ist? Schon vorbei?«
Veit krächzte: »Kloss, Professor. Ich wollte mich nur überzeugen, ob Sie noch …«
Idusch verbarg seinen Ärger nicht. »Mein lieber Kloss, das geht zuweit. Mitten in der Nacht! Ich warte auf den Anruf aus der Klinik, und Sie behelligen mich mit läppischen Dingen. Wenn Sie so …«
»An ihrem Hals …« keuchte Veit.
Aber Professor Idusch hatte längst aufgelegt.
Veit sah auf seine Armbanduhr. Null Uhr zweiundvierzig.
Hinter sich hörte er Annas verhasste Stimme. »Tot wäre dir der Professor lieber gewesen, nicht wahr? Dann könntest du den Strick um meinen Hals endlich zuziehen, was?«
Veit hörte, wie sie sich schwer auf die Couch fallen ließ und auch ihren verzweifelten Aufschrei: »Warum muss ich ausgerechnet dich lieben!«
Veit fühlte sich zerschlagen, als er am nächsten Morgen aufwachte. Er war allein. Anna hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Auf dem Weg ins Badezimmer sah Veit einen Zettel an ihrer Tür.
Lass mich, bitte, ausschlafen. A.
Ihm kam der böse Gedanke: Ach, würdest du doch niemals wieder erwachen! Im gleichen Augenblick aber überkam ihm die furchtbare Erkenntnis: auch du wünschst einem Menschen den Tod.
Ja, sie mussten sich trennen. Anna hatte recht. Dann würde ihre Schuld nicht mehr die seine sein. Zum ersten Mal hatte er Mitleid mit der zerstörten Seele seiner Freundin. Fest nahm er sich vor, sich noch heute mit ihr auszusprechen. Sachlich. Von seinen Vermutungen, Beweisen und Ängsten wollte er sagen. Er wollte versuchen, es wie einen normalen Bruch unter normalen Menschen aussehen zu lassen. Die Aussicht auf diese Entscheidung stimmte ihn etwas froher.
In der Küche trank er kalte Milch und würgte ein halbes trockenes Brötchen herunter, dann duschte er anschließend. Im Bademantel schlurfte er ins Wohnzimmer zurück und öffnete das Bücherpaket. Obenauf lag eine dicke Schwarte. Veit schlug das alte Buch auf. In altmodischen Lettern stand der Titel inmitten eines Kreises tanzender Hexen.
Die geheimen Künste der Hexe von Glarus
Veit verzog sich wieder auf die Couch, legte Zigaretten und Streichhölzer griffbereit und fing an zu lesen.
Zu Beginn erfuhr er Einzelheiten über Glarus, einen erzkonservativen Kanton, dessen Bewohner hauptsächlich vom Spinnen, Weben und Bedrucken bunter Baumwollstoffe gelebt hatten. Der nicht genannte Autor verbreitete sich über die Herrschaftsverhältnisse in Glarus und kam auf die Familie der Tschudis zu sprechen, in deren Haus das Kindermädchen Anna Göldi
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