015 - Das Blutmal
Nagel.«
»Und wann war das?« keuchte Veit. »Unwichtig. Wie unwichtig!«
»Nein! Bitte, wann?«
»Um Null Uhr vierzig.«
»O Gott!« stöhnte Veit voll Grauen und Verzweiflung. »Um Null Uhr vierzig sah ich an Annas Hals den verblassenden roten Hexenring.« Er schnappte nach Luft. »Ist das Kind sonst normal gebaut und gesund?«
»Nein. Es wäre gut, wenn Sie sofort kämen.«
»Natürlich.«
Veit legte auf. Er wusste nun, Anna Dori musste sterben. Durch ihn! Denn keine gesetzliche Instanz würde auf Grund der vorliegenden Tatumstände Anna Dori verurteilen. Ja, keine Staatsanwaltschaft würde überhaupt nur Anklage erheben. Eine Hexe! Eine Hexe im zwanzigsten Jahrhundert! Die Kläger würden lächerlich gemacht werden.
In fliegender Hast kleidete Veit sich an, stopfte die restlichen Bücher aus der Bibliothek in eine Reisetasche und schlich zur Toilettentür. Er hörte keinen Laut. So leise wie möglich verließ er die Wohnung. Nie, schwor er sich, würde er sie wieder betreten, solange Anna Dori noch auf dieser Welt weilte.
Veit wollte den VW aufschließen und stellte fest, dass er die Wagenschlüssel oben hatte liegenlassen. Er rannte zur Bushaltestelle.
Der Bus quälte sich langsam durch den Berufsverkehr zur Klinik am Stadtrand. Veit holte den alten Prozessbericht aus der Tasche und blätterte darin herum. Ein Kapitel war überschrieben:
Die Probleme am Rande des bösartigen Dramas von Glarus.
… und auch ihr Freund wurde in obrigkeitlichen Gewahrsam genommen und in den Kerker geworfen. Denn alle Welt war überzeugt, dass er Mitwisser der Verhexung des Kindes gewesen. Der Mann leugnete. Anna Göldi aber lachte, als sie davon erfuhr.
Veit fühlte seine Glieder einzeln absterben. Er raffte seine letzten Kräfte zusammen und las weiter.
Aus den Akten ist folgender Dialog zwischen Anna Göldi und einem der Richter zu entnehmen:
Richter: »Anna, dein Freund hasst dich. Er wünscht, du wärest tot oder nie geboren.«
Göldi: »Habt ihr ihn auch gefoltert?« Richter: »Nein. Aus freiem Entschluss machte er alle seine Aussagen. Wäre er noch frei und du auch, so würde er dich selbst töten.«
Göldi: »Der Narr! Er weiß es nicht.« Richter: »Was?«
Göldi: »Er weiß es nicht: bevor ich sterbe, wird er sein Leben beenden – durch eigene Hand. So ist es beschlossen.«
Das Buch entglitt Veits Händen. Er lehnte seinen Kopf an das Fenster. So war das also! Er konnte Anna gar nicht vernichten. Ihr Tod war gleichzeitig sein Todesurteil. Sein verpfuschtes Leben war unlösbar mit dem Hexendasein Anna Doris verbunden.
Wie aus weiter Ferne hörte Veit einen Fahrgast sagen: »Hier – das Buch fiel Ihnen herunter. Ist Ihnen nicht wohl?«
»O ja. Danke.«
Das Buch brannte wie Feuer in seiner Hand. Hemmungslos gab er sich seinem Unglück hin, doch Hexengenossen weinten nicht. Und er war einer. Unfreiwillig. Aber war Anna das nicht auch? Dieses einst wundervolle Mädchen? Dämonen hatten sich ihres Körpers und Geistes bemächtigt. Hatte er Mitleid?
Veit prüfte sich. Ja, aber stärker noch war seine Angst. Beschloss sie in diesem Moment seinen Tod? Jetzt, da sie erfahren hatte, dass er sie für eine Doppelgängerin der Hexe Anna Göldi hielt?
Die plötzliche Stille um ihn herum störte ihn aus seinen verworrenen Gedanken auf.
»Endstation«, hörte er eine fremde Stimme sagen.
Er blickte hoch. Vor ihm stand der Busfahrer.
»Wohin wollten Sie denn?«
»Zum Krankenhaus.«
Der Mann lachte. »Das haben Sie verträumt. Wohl an die Geliebte gedacht?« Veit nickte. »So ist es. Wie viele Stationen muss ich zurück?«
»Zwei. Wir fahren aber erst in einer halben Stunde zurück. Zu Fuß sind Sie schneller da.«
Veit stieg aus. Jeder Schritt brachte ihn dem Abgrund näher.
Anna Dori lag bäuchlings auf dem Teppichboden und wog das Buch spielerisch in der Hand. Sie wirkte völlig ruhig. Wohl zum hundertsten Mal las sie den Titel: Hexen muss man jagen!
Die Rätsel der jüngsten Vergangenheit waren nun geklärt. Veit hielt sie für eine Hexe. Ob sie sich einmal an seine Eltern wenden und ihnen von der geistigen Verwirrung ihres einzigen Sohnes berichten sollte? Vielleicht war das das beste.
Anna strich sich müde über die Stirn. Da krochen die schlimmen Kopfschmerzen wieder heran, die sie seit Wochen quälten. Annas linke Hand glitt suchend durch das dichte schwarze Haar. Zwei Finger drückten leicht auf einen Punkt am Hinterkopf. Ja, hier saß das Schmerzzentrum, das ihre Denkfähigkeit
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