016 - Das Dämonenauge
Oberkörper waren nackt und glänzten ölig. In den Händen hielten sie große Macheten. Geduckt kamen sie näher.
Gegen diese Übermacht haben wir keine Chance , schoß es Dorian in den Sinn.
»Ich sehe für unsere Köpfe üble Zeiten nahen«, murmelte Parker in einem Anflug von Galgenhumor.
Die Männer blieben einige Schritte vor ihnen stehen. Ihre Macheten funkelten in der frühen Morgensonne; die Gesichter der Schwarzen waren ausdruckslos. Aus der fünften Hütte klang gedämpftes Trommeln. Die Tür wurde von unsichtbaren Kräften geöffnet. Langsam setzten sich die Männer in Bewegung. Dorian und seinen Gefährten blieb keine andere Wahl: Sie mußten mitgehen. Langsam schritten sie auf die Hütte zu. Die Schwarzen rückten immer näher.
Vali betrat als erste die Hütte. Dorian und Jeff folgten ihr. Kaum waren sie eingetreten, da schloß sich die Tür wieder. Ein betäubender Duft hüllte sie ein.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht. Die Hütte schien nur aus einem fensterlosen Raum zu bestehen. Die Wände waren mit kunstvoll geknüpften Teppichen geschmückt. In der Mitte stand ein runder niedriger Tisch, um den Sitzkissen aufgeschichtet waren. Auf dem Tisch stand ein fünfarmiger silberner Kerzenleuchter. Die Kerzen waren armdick und rot.
Aus den Schatten löste sich plötzlich eine Gestalt, die langsam näher kam. Das Licht der flackernden Kerzen fiel auf das Gesicht der Gestalt.
Dorian hatte schon viele alte Frauen gesehen, aber so ein Gesicht hatte er noch nie erblickt. Es sah wie ein Schrumpfkopf aus. Der Kopf konnte kaum größer als eine Grapefruit sein. Hunderte von Falten überzogen das Gesicht, das die Farbe brüchig gewordenen Pergaments hatte. Das schlohweiße Haar war zottelig und fiel wie ein Schleier über die schmalen Schultern. Dominierend in diesem abstoßenden Gesicht waren die großen Augen, die wie schwarze Edelsteine funkelten und voller Leben waren. Der Körper der Alten wurde von einem scharlachroten Umhang bedeckt, der reichlich mit Zaubersymbolen bestickt war.
Die Hexe blickte zuerst Dorian an. Er glaubte, von ihren dunklen Augen aufgesogen zu werden. Sie starrte ihn einige Sekunden an, dann wandte sie sich Parker zu, schloß die Augen und trat einen Schritt zur Seite, bis sie Vali genau gegenüberstand. Jetzt erst merkte Dorian, wie klein die Hexe war. Ihre faltigen Hände glitten aus dem Umhang und hoben sich langsam.
»Du bist doch gekommen, Valiora«, sagte sie auf kreolisch. Ihre Stimme klang rauh wie das Krächzen eines Papageis.
»Ja, Mama-loi Jorubina.«
»Es ist lange her«, sagte die Alte. »Zu lange. Mein Gedächtnis ist schwach geworden. Und ich bin müde. Zu müde.«
»Erinnerst du dich nicht mehr?« fragte Vali drängend.
»Woran, mein Kind?«
»An das Pfand, das ich dir zur Aufbewahrung gab.«
»Ach ja«, sagte die Mama-loi. »Daran erinnere ich mich. Du willst es wiederhaben?«
Vali nickte. »Ja, deshalb bin ich hier.«
»Du kommst zu spät, Valiora. Ich habe das Pfand nicht mehr.«
»Aber das ist nicht möglich! Ich weiß, daß …«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Es wurde mir gestohlen. Gestern.«
Sie bückte sich, und ihr Kopf verschwand unter dem Tisch. Sekunden später richtete sie sich wieder auf. In der rechten Hand hielt sie eine Statue, die sie auf den Tisch stellte. »Sieh selbst, mein Kind!«
Vali trat zwei Schritte vor, dann zuckte sie zurück. Eine Schlange wand sich ein Tischbein hoch, kroch auf die Tischplatte und schlängelte sich um die Statue. Die Schlange war einen halben Meter lang und rotbraun. Ihre Augen glühten rubinrot, ihre Zunge zischelte hin und her. Ein halbes Dutzend anderer Schlangen folgten ihr in wildem Durcheinander und schnürten die Statue ein.
Dorian kam näher. Die Schlangen zischten lauter. Er ließ sich aber nicht davon beeindrucken. Die Statue war ungewöhnlich kunstvoll ausgeführt. Sie stellte einen hockenden hünenhaften Mann dar, dessen Kopf ein Schlangenschädel war. Das Götzenbild war aus Gold und mit kostbaren Edelsteinen verziert. Der Schlangenkopf hatte zwei Rubinaugen. Und über den Augen befand sich eine große Öffnung.
Die Hexe streckte ihre rechte Hand aus und berührte die leere Augenhöhle.
»Hier saß das blutrote Dämonenauge. Das magische Auge des Dämons. Fast zweihundert Jahre lang ruhte es in dieser Statue, und gestern wurde es gestohlen.«
»Wer hat es gestohlen?« fragte Hunter auf französisch.
Die Alte blickte ihn an. »Marassa, den man zu Unrecht Loa nennt.
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