016 - Herrin der Woelfe
rothaarigen Retter konnte nichts in Erfahrung gebracht werden.
Für die Polizei stand fest, dass die männlichen Leichenreste von Woiew stammten. Über die Frau tappte man noch immer im Dunkeln. Kommissar Krauss erschien noch zweimal und stellte Fragen, aber es klang eher resigniert. Der Fall lag schon halb bei den Akten. Das war gut und beängstigend zugleich, denn Woiew wusste von ihr – von ihrer zweiten Natur. Wie konnte sie sich sicher fühlen, wenn Woiew womöglich lebte?
Noch einmal wurde der Fall für die Öffentlichkeit interessant als die Polizei in Erfahrung brachte, dass sowohl Rohrich als auch seine Freundin Kathie Kurtz in Salzburg als vermisst gemeldet waren. Wenn man annahm, dass es sich bei der Frau um Kathie Kurtz handelte, wo war dann Rohrich? Wenn man annahm, dass die zweite Leiche Rohrich war, wo war dann Woiew?
Aber es gab keine weiteren Hinweise. So landete die Sache doch bei den Akten mit dem Vermerk: Vermutlich vier Tote.
Thania atmete auf, zum ersten Mal in den sechs Tagen, die sie bis jetzt im Krankenhaus verbracht hatte. Es wurde nicht länger nachgeforscht. Das bedeutete, dass sie sicher war; wenigstens vorerst.
Sie ließ sich einige Bücher über Wölfe bringen und begann zu lesen.
Besonders der Mähnenwolf interessierte sie.
Ein zimtrotbraunes Geschöpf, das hauptsächlich in den brasilianischen Steppen lebte. Sie war ganz sicher, dass sich in Woiews Rudel kein Mähnenwolf befunden hatte. Andererseits konnte sie auch ziemlich sicher sein, dass die Experten, die die Polizei zu Rate gezogen hatte, sich nicht irrten.
Woher war also dieser Wolf gekommen?
Konnte es sein, dass Woiew selbst …
Zwei Tage später verließ sie das Krankenhaus. Gehen bereitete ihr immer noch Schmerzen, aber sie hielt es einfach nicht mehr länger im Bett aus. Ihre Hände waren fast verheilt, wenn auch noch für viele Dinge unbrauchbar, da die neue Haut noch zu empfindlich war.
Schuhe waren eine Qual; Sandalen ohne Fersenriemen waren das einzige, was sie ertrug, und das auch nicht lange Zeit. Bis zur Heilung war es noch ein weiter Weg, hatte der Arzt gesagt.
Sie verbrachte die nächsten Tage zu Hause. Eddie besuchte sie fast täglich. Aber trotz seines aufmunternden Gebarens versank sie immer mehr in Grübeleien.
Die Erinnerungen überfielen sie zusehends stärker. Sie fühlte erdrückend, dass nichts die Last der Schuld von ihren Schultern nahm – auch nicht die Tatsache, dass nicht sie mordete, sondern etwas anderes – in ihr.
Es waren ihre Zähne, die sich in die Kehle des anderen gegraben hatten, daran war nicht zu rütteln.
Und dann dieser andere unvorstellbare Gedanke: Wie oft hatte sie es getan?
Wenigstens seit fünfzehn Jahren. Bei jedem Vollmond?
Sie vermied es, die mögliche Zahl ihrer Opfer nachzurechnen.
Es war alles zu monströs, zu unglaubwürdig.
Erneut begann sie, an allem zu zweifeln, aber das war viel
schwieriger als zuvor.
Solange es nur Träume gewesen waren, hatte es viele Möglichkeiten der Deutung gegeben. Sie hatte wohl die Angst
und das Grauen gekannt – aber nicht vor sich selbst. Doch die Erinnerungen waren eindeutig. Es gab keine Zweifel mehr darüber, wovor sie Angst haben musste. Vor dem, was der Vollmond in ihr lebendig werden ließ – alle achtundzwanzig Tage erneut.
Sie fing an, in Lexika und einschlägigen Büchern über Werwölfe nachzulesen, und lernte, dass es kaum ein Land gab, in dem der Werwolf nicht einen festen Platz in den Legenden besaß. In fast allen Sprachen gab es ein eigenes Wort für ihn.
Überall bezeichnete es das gleiche Phänomen: die freiwillige oder unfreiwillige Verwandlung eines Menschen in einen Wolf oder in Gegenden, in denen der Wolf nicht verbreitet war, in eine andere Bestie.
Wölfe waren des Menschen jahrtausendealter Erzfeind, gefräßige, blutgierige Bestien.
Ihre glühenden Augen, ihr schauerliches Geheul, die oft lautlose Art ihres Auftauchens und ihre Bereitwilligkeit, in Zeiten des Hungers auch den Menschen anzugreifen, ließen sie zum Symbol des Bösen in beinahe allen volkstümlichen Legenden werden. Und kein anderes Tier wurde im Laufe der Jahrhunderte mit solcher Gründlichkeit ausgerottet, wo immer man es antraf, wie der Wolf. Lange Zeit hielt man ihn in den meisten Gebieten Europas für ausgestorben. Aber neueste Meldungen berichten von Einzelgängern und Rudeln in Norditalien und Spanien und einem Zustrom aus den östlichen Ländern.
Als würde eine neue Ära des Wolfes beginnen, dachte sie.
Der
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