016 - Herrin der Woelfe
ist allen logischen Überzeugungsversuchen überlegen. Wir haben in zehn Tagen Vollmond. Wenn sich Probleme ergeben, können wir natürlich auch noch einen Zwischentermin vereinbaren. Auf jeden Fall aber kommen Sie am Tag des Vollmondes zu mir, und zwar bereits am Nachmittag. Und bereiten Sie sich darauf vor, die Nacht über hier zu bleiben. Dann können Sie mir zeigen, was an Ihrem Werwolf dran ist.«
Sie sah ihn groß an. »Haben Sie keine Angst?«
Er lachte. »Nein. Ich habe vor ein paar Wochen Napoleon ins trübe Auge geblickt, und er hatte mehr auf dem Gewissen als die hundertachtzig, die Sie aufweisen können, wenn wirklich bei jedem Vollmond der Wolf mit Ihnen durchging.«
»Da ist nur ein kleiner Unterschied«, bemerkte sie warnend.
»Es war nicht der echte Napoleon. Das wussten Sie. Aber ich – ich könnte echt sein.«
»Das Risiko nehme ich auf mich.«
»Dann muss ich auf etwas bestehen«, fuhr sie fort.
»Dass unsere Zusammenkunft vertraulich behandelt wird, dass niemand etwas davon erfährt und dass auch nichts in Ihren Notizen darauf hinweist …«
Verblüfft starrte er sie an, ehe ihm dämmerte, warum das für sie wichtig war. Sie musste vermeiden, dass ein Verdacht auf sie fiel, wenn man seine Leiche fand.
»Sie sind verdammt gründlich«, stellte er beinahe anerkennend fest.
»Ich war es immer«, erwiderte sie tonlos.
Das Gespräch mit Dr. Ferring hatte sie trotz seiner Zweifel und seines sarkastischen Spottes nur bestärkt. Die Schilderung der Vorgänge hatte die Erinnerungen in allen Details wieder lebendig werden lassen. Und wenn sie auch geneigt war, diese Verwandlung in einen Wolf als ein Traumbild, als Wahnvorstellung abzutun, so ließ sich an einer Tatsache nicht mehr rütteln: dass sie in den Vollmondnächten mordete; dass etwas in ihr sie dazu trieb; dass sie ein Ungeheuer war.
Während der folgenden Tage kam eine kalte Gelassenheit über sie. Sie begann, ihre Vergangenheit zu akzeptieren. Sie sah die Alpträume nicht länger als Träume, sondern als Erinnerungen. Noch immer gab es viele dunkle Flecken, so als würde ihr Unterbewusstsein die grauenhaften Geschehnisse immer wieder aus ihrer Erinnerung streichen.
Nur in den Träumen, in denen das Unterbewusstsein verschlüsselte Botschaften durch die schützende Barriere dringen ließ, hatte sie einzelne Bilder jener Dinge gesehen, die sie unter dem Einfluss des Vollmondes tat.
Dr. Ferring hatte ihr diese Barriere erklärt, diesen Schutzmechanismus des Unterbewusstseins, aber er dachte an andere Dinge, vor denen sie geschützt wurde. Er dachte, dass alles auf jenes Erlebnis im Zoo zurückzuführen sei. Er glaubte, wenn sie sich wieder daran erinnerte, was der Schock sie damals hatte vergessen lassen, dann würde sie frei sein.
Auf eine Art hatte er recht: sie war nun frei. Sie erinnerte sich, dass sie getötet hatte.
Trotzdem blieb noch immer ein winziger Rest an Zweifeln, den nur der kommende Vollmond beseitigen konnte. Aber was dann – wenn es keine Flucht in Zweifel mehr gab? Und wie würde Dr. Ferring reagieren, wenn er überlebte?
Immer mehr Details flossen in ihr Bewusstsein – wie ein steter Strom von Blut. Alles in ihr wurde kalt. Sämtliche Gefühle erstickten unter dieser Flut von Scham, Ekel, Abscheu – selbst Reue. Die Tatsache war zu monströs für ein menschliches Gewissen, das normal zwischen Gut und Böse abwog.
Eddies Besuche rissen sie immer wieder aus ihren Überlegungen und Grübeleien, in die sie fast die ganze Zeit versank. Sie fragte sich, ob sie ihn ebenso töten würde wie jeden anderen.
Und sie kam mit Entsetzen zu der Erkenntnis, dass sie es sicher tun würde, denn in jenen Augenblicken war sie nicht Herr über sich selbst. Es dominierte das andere – der Wolf.
Sie versuchte, sich ein Zusammenleben mit einem Partner vorzustellen und wusste instinktiv, dass sie immer einsam bleiben würde, auch wenn das Menschliche in ihr 353 Tage im Jahr überwog.
Allmählich fühlte sie sich kräftig genug, ihre Arbeit bei der Abendpresse wieder aufzunehmen. Ihre Wunden waren verheilt, ihr Haar wuchs, und ihre wachsende Scheu vor den Menschen war keine ausreichende Entschuldigung, dem Leben länger fernzubleiben, der Realität länger auszuweichen. Sie musste lernen, sich bewusst unter den Menschen zu bewegen, bewusst und unbefangen. Die Menschen töteten einander aus geringeren Gründen – nicht nur, um zu überleben.
Die Welt war voll des Elixiers, das sie brauchte. Es pulste in jedem
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