0161 - Zuletzt wimmern sie alle
unterrichtet sind«, begann der Professor. »Heute morgen war einer Ihrer Kollegen hier und brachte mir ein Fotoalbum. Darin waren die Bilder eines Mädchens eingeklebt. Ich sollte diese Bilder miteinander vergleichen und zu ermitteln suchen, ob es tatsächlich Bilder von einem Mädchen seien oder ob es vielleicht zwei Zwillingsschwestern sein könnten. Ich bin nämlich Spezialist in der Erforschung eineiiger Zwillinge, und die sind ja häufig einander zum Verwechseln ähnlich - jedenfalls für einen Fremden.«
»Ich weiß, Professor«, sagte ich. »Ich bin der zweite Sachbearbeiter dieses Falles. Was haben Ihre Vergleiche ergeben?«
Einen Augenblick war es totenstill im Office. Dann kam die Stimme des Professors wieder: »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, Mister Cotton, sind es zwei Mädchen, die auf den Bildern zu sehen sind. Es sind deutliche Unterschiede vorhanden. Die eine dürfte etwa sechs Pfund leichter und ungefähr drei Zentimeter kleiner sein als die andere, aber das ist für Fremde völlig unerheblich. Kein Fremder wird die Mädchen bei der frappierenden Gesichtsähnlichkeit deshalb unterscheiden können. Ich meine, solange ein Fremder niemals beide Mädchen gleichzeitig zu Gesicht bekommt, wird er höchstwahrscheinlich denken, daß es immer ein und dieselbe wäre. Der Gewichtsunterschied ist nicht erheblich, außerdem können kluge Frauen durch ihre Kleidung viel ausgleichen. Die Größe kann schon gar nicht auffallen, denn welche Frau ist heute nicht ein paar Zentimeter größer und morgen ein paar kleiner?«
»Wieso?« fragte ich verdutzt.
Der Professor lachte: »Weil sie heute hohe und morgen flache Schuhe trägt. Wir achten nicht darauf, Mister Cotton, aber wir wissen alle ganz genau, daß Frauen manchmal bis ans Kinn, manchmal nur bis an die Schulter reichen, weil sie andere Schuhe tragen.«
»Ja, natürlich«, gab ich zu. »Das leuchtet ein. Aber Sie sind ganz sicher, daß es also zwei verschiedene Mädchen auf den Bildern sind?«
»Ich sagte schon: zu neunundneunzig Prozent sind es zwei Mädchen! Raila Sheers hat eine frappierend ähnliche Zwillingsschwester, Mister Cotton.«
***
Wir fuhren in die 52ste Straße West, nachdem wir noch ein paar letzte kleine Vorbereitungen getroffen hatten. In jene Straße, in der Mister Ralt Stetson eine kleine Wohnung hatte und den ehrbaren Familienvater spielte, wo sich die eine Seite seines Doppellebens abspielte.
Frau Stetson öffnete uns. Sie erkannte mich sofort wieder. Ich hatte sie ja damals aufgesucht, als wir Raila Sheers’ Leiche ein paar Häuser weiter in ihrem Zimmer gefunden hatten.
»Oh, Mister Cotton«, sagte sie erschrocken. »Das ist aber eine Überraschung. Sie bringen hoffentlich nichts Schlechtes?«
»Nicht für Sie«, sagte ich unbestimmt. »Ich hätte gern, wenn Sie nichts dagegen haben, ein paar Worte mit Ihnen gewechselt, Mrs. Stetson. Übrigens, das ist mein Kollege Phil Decker.«
»Sehr erfreut. Bitte, kommen Sie doch herein, meine Herren!«
Wir traten über die Schwelle. Sie führte uns in das kleine, aber behagliche Wohnzimmer und bat uns, Platz zu nehmen.
»Ihr Mann ist nicht da?« fragte Phil beiläufig.
»Nein. Ist es wichtig?«
»Überhaupt nicht«, meinte Phil kopfschüttelnd.
»Mrs. Stetson«, begann ich. »Wo war Ihr Mann heute nacht?«
Sie erschrak deutlich. Trotzdem versuchte sie, das reine Gewissen zu spielen und wollte uns einreden, er wäre die ganze Nacht zu Hause gewesen. Wir gaben uns alle Mühe, hatten aber keinen Erfolg. Sie blieb dabei, daß er zu Hause gewesen wäre.
»Na gut«, sagte ich schließlich und ging mit Phil zur Tür. »Wir wollen Sie nicht länger stören. Mrs. Stetson. Grüßen Sie Ihren Mann von uns. Und seine Schwester. Ich wußte gar nicht, daß er eine aufregende Blondine zur Schwester hat.«
Sie stutzte: »Eine aufregende Blondine? Was für eine aufregende Blondine?«
»Ach«, sagte ich achselzuckend, »ich habe ihn letztens itf der Nacht mit ihr in einem sündhaft teuren Nachtlokal am Broadway gesehen. Ist es nicht seine Schwester?«
Die Frau kämpfte plötzlich mit den Tränen. Einen Augenblick schien es so, als würde sie tatsächlich gleich anfangen zu weinen, aber dann raffte sie sich auf, straffte sich zu einer unnatürlich geraden Haltung und sagte mit fester Stimme: »Es kann nicht seine Schwester sein, Mister Cotton, denn er hat keine. Und ich will Ihnen gegenüber kein Theater spielen. Ich habe seit langem das Gefühl, daß mich mein Mann betrügt. Er
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