017 - Der Engel des Schreckens
in Monte Carlo ihr und ihren Freunden ein Vermögen gewinnen sollte.
Lydia hatte für Glücksspiele wenig übrig und zeigte so geringes Interesse, daß Mrs. Cole-Mortimer beinahe verzweifelte; sie wußte ja nicht, daß man von ihr nur erwartete, den Boden zu beackern, auf dem Jean Briggerland säen und ernten wollte.
Die beiden Damen speisten nach dem Theater in einem der Klubs, und Lydia dachte belustigt an den alten Jaggs, der seine Pflichten so ernst nahm. Ihre Meinung über den alten Mann hatte sich wieder geändert; Respekt und Dankbarkeit waren an Stelle des Verdrusses getreten, den seine wenig anziehende Gegenwart ihr verursacht hatte.
Vor dem Portal des Klubs blickte sie um sich, erwartete halb, Jaggs irgendwo zu sehen, aber der strömende Regen trieb sie schnell in das Haus hinein.
Mrs. Cole-Mortimer hatte erwähnt, daß sie vielleicht auch Jean treffen würden, und sie fanden sie bald im Kreise eines halben Dutzends vergnügter junger Leute. Lydia nahm neben Jean Platz, die sie mit den anderen bekannt machte. Aber Lydia verstand ihre Namen nicht und konnte sich auch später nie an diese erinnern.
Mr. Marcus Stepney, der sich tief über ihre Hand beugte, hatte sie schon früher kennengelernt, aber der Eindruck, den dieser überelegante Mann auf sie machte, war heute noch ungünstiger als bei der ersten Begegnung.
»Tanzen Sie?« fragte Jean.
Die Kapelle spielte einen verlockenden Tango. Lydia bejahte, und Jean winkte einem hübschen, hochgewachsenen jungen Mann zu, der während des folgenden Tanzes ausschließlich von Jean Briggerlands Vorzügen schwärmte.
Lydia hörte belustigt zu.
»O ja, sie ist schön«, beantwortete sie die ständige Wiederholung der gleichen Frage. »Ich finde sie entzückend.«
»Das sage ich auch«, versetzte der junge Mann - Lord Stoker, wie sie später herausfand. »Ich halte sie für die schönste Frau auf der ganzen Welt. Sie sind natürlich auch hübsch«, fügte er hastig hinzu, und Lydia lachte laut auf.
»Aber sie hat so viele Feinde«, fuhr der junge Mann grimmig fort, »und wenn mir jemals dieser Glover in die Hände kommt, dann kann er was erleben.«
Lydia wurde ernst.
»Mr. Glover ist ein sehr guter Bekannter von mir.«
»Entschuldigen Sie, bitte«, brummte er, »aber-«
»Hat sich denn Miss Briggerland über ihn beklagt?«
»Aber selbstverständlich nicht. Sie hat niemals etwas gegen ihn gesagt«, beeilte sich der junge Lord sein Ideal zu verteidigen. »Sie erwähnte nur einmal, daß sie seine Belästigungen nicht länger ertragen könne. Es bricht einem beinahe das Herz, wenn man sieht, wie sie unter diesem . . . hm . . . Freund zu leiden hat.«
Für den Rest des Abends war Lydia recht nachdenklich; undeutlich begann sie dies und jenes zu sehen, was sie vorher nie bemerkt hatte. ›Selbstverständlich‹ hatte Jean nie ein Wort gegen Jack Glover geäußert, und doch war es ihr gelungen, den jungen Mann gegen den Anwalt aufzubringen. Mit einem gewissen Erstaunen machte sie sich klar, daß sie ähnlich über Jack gedacht hatte - und Jean war die Veranlassung dazu gewesen. Aber sie hatte doch nur nett und gut von ihm gesprochen!
Als sie nach Hause kam, hörte sie, daß Jaggs nicht gekommen sei, aber er erschien wenige Minuten nach ihr. Sein triefender Soldatenmantel verriet ihr, daß er den ganzen Abend im Regen zugebracht haben mußte.
»Aber Jaggs«, rief sie mitleidig, »wo haben Sie nur gesteckt?«
»'n bißchen 'rumjeloofen, Miss«, krächzte er. »Hab' mir de kleenen Enten im Park anjesehn.«
»Sie haben erst vor dem Theater und dann vor dem Klub gewartet«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Davon weeß ick nischt. Een Theater is jenau wie det andere für mich.«
»Sie müssen sich sofort ausziehen und Ihre Sachen trocknen lassen«, befahl sie, aber das einzige, wozu er sich verstand, war, seinen durchnäßten Mantel abzulegen.
Dann verschwand er in seinem Zimmer, um dort über Dinge nachzudenken, die für ihn von Interesse zu sein schienen. Ein Bett war für ihn aufgestellt worden, aber er hatte es nur einmal benutzt.
Als jedes Geräusch in der Wohnung erstorben und das letzte Licht verlöscht war, öffnete er leise die Tür, setzte einen Stuhl mit dem Rücken gegen die Wohnungstür und verbrachte so die Nacht.
Am Morgen - Lydia schlief noch - war er, wie gewöhnlich, verschwunden.
Kapitel 17
Lydia war die nächsten Tage sehr beschäftigt. Sie hatte das Haus in der Curzon Street gekauft und verbrachte ihre Zeit mit Möbellieferanten, Tapezierern
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